11.06.2024
(Berlin/civis) - Es ist Tradition und Premiere zugleich: Nun schon zum sechsunddreißigsten Mal wird der Medienpreis für Integration und kulturelle Vielfalt verliehen. Zum ersten Mal findet das Event im Rahmen der re:publica statt, des großen Festivals für die digitale Gesellschaft. Entsprechend hat auch der Tatort gewechselt: Moderatorin Vivian Perkovic begrüßt die Preiskandidat:innen und das Publikum diesmal in Halle 4 der STATION am Berliner Gleisdreieck.
Der einstige Postbahnhof ist ein Ambiente von eher rauem Charme, mit viel offenem Ziegel-Gemäuer, Heavy-Metal-Verstrebungen und anderen baulichen Reminiszenzen an verflossene Eisenbahn-Zeiten. Nicht vornehm, nicht gemütlich oder gar schnuckelig, stattdessen geprägt von den architektonischen Spuren solider industrieller Arbeit. Diese STATION ist also keine abgeschlossene Kapsel für Insider-Gespräche, sondern zugänglich für eine Außenwelt, die sich den Problemen stellt, die CIVIS und re:publica am Herzen liegen. „Es gibt viele Überschneidungen zwischen dieser tollen Gesellschaftskonferenz, die sich seit Jahren unter anderem Themen der Einwanderungsgesellschaft sehr engagiert widmet, und CIVIS“, sagt Ferdos Forudastan, Geschäftsführerin der CIVIS-Medienstiftung.
Anders ausgedrückt: Das passt. Das passt wie im übrigen auch das diesjährige Motto der re:publica: Who cares? Will heißen: Wen kümmert’s?, aber auch: Wer kümmert sich? CIVIS, erläutert Perkovic, kümmert sich und hat das von Anfang an getan. „Wie können Medien zu einem friedlichen Miteinander von Menschen unterschiedlicher Herkunft und Lebenssituation beitragen? Und wie aufklären, wenn es um Rassismus, Antisemitismus, Antiziganismus oder Rechtsextremismus geht?“ Es sind Fragen, die gut auf die re:publica passen, weil sie die digitale Welt genauso umtreiben wie die analoge.
Der erste Gewinner des Abends zeigt, dass es sich nicht um flache Aktualitäten handelt, um Probleme, die sich ein für alle Mal erledigen lassen, und dass dies den Menschen draußen, den User:innen durchaus bewusst ist. Der Sieger im Wettbewerb der Kinofilme ist auch diesmal basisdemokratisch per Publikumsabstimmung gekürt worden und wird wie alle Preisträger:innen präsentiert von der Schauspielerin Melika Foroutan, der „Frau, die es heute Abend richtig spannend macht“ (Perkovic). Der CIVIS Cinema Award geht an „The Zone of Interest“, Regisseur Jonathan Glazers beklemmendes historisches Drama über das Familienleben im Anwesen des Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höß. Das Grauen des Lagers kommt nicht ins Bild und ist doch, unter anderem über die Tonspur, bedrückend präsent.
Für den verhinderten Regisseur Glazer nimmt Andreas Arnhold vom Filmverleih LEONINE Studios die prismenförmige Preis-Stele und den großen Applaus der Gäste im Saal entgegen. „Kein einfach zugänglicher Film“, sagt Arnhold über das mehrfach ausgezeichnete Werk. Umso mehr sei er stolz über die positive Reaktion des Publikums.
Fast 900 Einreichungen haben sich um einen der begehrten Medienpreise beworben und Auswahlkommissionen und Jurys über Wochen beschäftigt. Das große Finale am heutigen Abend bestreiten 53 Nominierte mit ihren „erhellenden, anregenden, im besten Sinne nachdenklich stimmenden, klugen, lustigen, traurigen, mitreißenden, aufwühlenden, aufrüttelnden, umwerfenden, wunderbar produzierten Beiträgen“, wie Forudastan in ihrer Begrüßung bilanziert. Erstmals sind sämtliche 27 EU-Länder sowie die Schweiz vertreten, und damit hat das Feld der Bewerber:innen sich weiter europäisiert – ganz im Sinne der Stiftung, die ja ausdrücklich einen „Europäischen Medienpreis“ vergibt. Thematisch ist es kein leichtgewichtiger Jahrgang. Die Autor:innen haben erkennbar keine Scheu, große – und das heißt in den meisten Fällen: hochkontroverse – Themen anzugehen.
Das gilt auch für die Preisträger:innen in der Kategorie Social Media: „Israel und Gaza: Leben zwischen Terror und Krieg.“ Es ist die für STRG_F (NDR I funk) verfilmte Geschichte der Deutsch-Israelin Yarden und des Deutsch-Palästinensers Abed, deren beider Leben durch den Hamas-Überfall vom 7. Oktober 2023 und den anschließenden israelischen Gaza-Feldzug erschüttert wird. Melika Foroutan zitiert aus der Begründung der Jury: „Die Produktion ist im besten Sinne parteilich – sie schlägt sich auf die Seite von Empathie und Menschlichkeit.“
Lisa Hagen, Armin Ghassim, Manuel Biallas, Sulaiman Tadmory, Timo Robben – fünf der sechs Autor:innen kommen auf die Bühne und nehmen die Preise in Empfang, plus eine sechste Stele für ihre Mitstreiterin Mariam Noori, die nicht dabei sein kann. Wie geht es Yarden und Abed, den beiden Protagonisten? Sie leben, aber sie leben im Elend des Krieges. „Beide Seiten leiden unter der Gewalt, die immer noch schlimmer wird“, berichtet Lisa Hagen. „Es ist einfach nur schrecklich.“ Umso mehr, heißt es im Team, habe man sich bemüht, jede einseitige Bewertung zu vermeiden.
Die Dokumentation „Songs of Gastarbeiter – Liebe, D-Mark und der Tod“ findet einen neuen Zugang zu einem alten, vermeintlich umfassend ausgeleuchteten Thema: Die Autoren Cem Kaya und Mehmet Akif Büyükatalay erschließen das Leben der sogenannten Gastarbeiter:innen über ihre Lieder, ihre Musik. Die Produktion, so hat es die Jury formuliert, „erzählt von den Schmerzen der Alten und den Freuden der Jungen, und die erzählt es unglaublich sinnlich, mitreißend und voller Energie“. Das wird mit dem Preis in der Kategorie Video Information honoriert.
Voll mitreißender Energie präsentieren sich auch die beiden prämiierten Autoren. „Gastarbeiter sagen wir ja nicht mehr. Wir sagen jetzt ‚Menschen mit Migrationsgeschichte‘ – nicht ‚Hintergrund‘! Und wenn ‚Gastarbeiter‘, dann ‚Gastarbeiter:innen‘.“ Das gibt schon mal einen Extra-Applaus. Und überhaupt, sagt Autor Cem Kaya, „wir haben gelernt: Wir selber wissen nix, und die da draußen wissen auch nix.“ Das hat der Film geändert: „Beim ersten Kapitel hat mein Vater geweint, beim zweiten Kapitel hat meine Mutter geweint, beim dritten haben meine Geschwister geweint – das war so ein vereinendes Weinen“, erzählt Kayas Kollege Akif Büyükatalay. Halle 4 ist begeistert.
In der Kategorie Podcast wirken Jury und Publikum zusammen. Die Juror:innen machen Vorschläge, unter denen dann die User:innen ihren Favoriten auswählen. Das ist „Sonneberg ist unsere Schuld!“, eine Folge aus der Serie Ostkinder 80/82. Die ‚Ostkinder‘ Danny Frede und Alexander Derno gehen der Frage nach, was sie eigentlich mit dem Rechtsradikalismus in der alten Heimat zu tun haben, in der sie schon lange nicht mehr leben. Selbsterforschung in Bereichen, wo es unbequem wird, lobt die Jury, „in der Zone der eigenen Verantwortung“.
Vom Umgang mit Schuld und Verantwortung handelt auch die Geschichte der Dolmetscherin Rim, die ihr Geld in Asylverfahren in Frankreich verdient. Was sie zu hören bekommt, bringt sie dazu, die Grenzen der Neutralität zu überschreiten, zu der sie eigentlich verpflichtet ist – sie schlägt sich auf die Seite der Asylbewerber:innen. „La Voix des Autres“ („The Voice of Others“) spiegelt aus Sicht der Jury „das Verhältnis von Migration und Sprache, die Zerrissenheit zwischen Regeln und dem Wunsch, Menschen in Not zu helfen“. Dafür gibt es für die Autor:innen Fatima Kaci und Pablo Léridon den Preis in der Kategorie Video Fiktion + Dokudrama.
Ein besonderes Erlebnis, sagt Moderatorin Perkovic, vermitteln die Einreichungen in der Abteilung Audio Lang: „Das Hören der in diesem Jahr nominierten Features verändert einen: durch ihre atmosphärische Dichte und dadurch, wie nah man denen kommt, um die es geht.“ Gewinnerin ist „Perle – Der Weg zurück zur körperlichen Unversehrtheit“. Das Feature, im französischen Original konzipiert von Yasmina Hamlawi und ins Deutsche übertragen von Annika Erichsen, schildert die Leidens- und Selbstbehauptungsgeschichte der Somalierin Fos. Sie wurde in ihrer Heimat Opfer einer Genitalverstümmelung, lebt nach Flucht und erfolgreicher chirurgischer Rekonstruktion ihrer Klitoris in Belgien. „Das ist schonungslos, wahrt aber stets die Würde der Protagonistin“, heißt es über das Radio-Feature in der Jurybegründung.
Hamlawi ist aus Brüssel zugeschaltet, Erichsen nimmt in Halle 4 die Preise für beide entgegen. „150 Millionen Frauen und Mädchen sind davon betroffen“, sagt Erichsen. Das Besondere an ihrem Stück sei, dass die Protagonistin Fos nicht nur als Opfer dargestellt werde, „sondern als die starke Frau, die sie ist, und wir dabei sein dürfen, wie sie sich ihren eigenen Körper und ihre Sexualität wieder aneignet“.
Den Young C Award für Filmemacher:innen im Alter bis zu bis zu 38 Jahren gewinnt „Echoes from Borderland“, ein an der Münchner Hochschule für Fernsehen und Film entstandener Dokumentarfilm von Lara Milena Brose. Die 15-jährige Nahid ist mit ihrer Familie nach der Flucht vor den Taliban in einem bosnischen Grenzdorf gestrandet, von wo sie verzweifelt versuchen, nach Kroatien und damit in die EU zu gelangen. Brose ist erkrankt und konnte nicht nach Berlin kommen, hat aber ein Statement voller „rebellischer Hoffnung“ geschickt: „Ich wünsche mir, dass in Zukunft niemand mehr durch dieses künstlich erschaffene Martyrium durch muss an unseren Außengrenzen!“
Was sind ‚Brandenbleiber‘? Das sind Brandenburger:innen, die dort wohnen und bleiben, obwohl sie rassistischen Anfeindungen ausgesetzt sind. Wie der 18-jährige Jeremy aus Fürstenwalde, der Rückhalt findet im Kreise der Kumpel bei der Freiwilligen Feuerwehr. Jeremys Geschichte „Die Feuerwehr ist mein Safe Space – Heimat trotz Rassismus“, erzählt von der Autorin Hannah Weber, gewinnt den CIVIS Preis in der Kategorie Audio Kurz. Deutsche Welle-Intendant Peter Limbourg von den CIVIS-Freunden und -Förderern: „Es ist besonders wichtig, dass wir Menschen schützen, die angegriffen werden. Ob das Einwanderer sind, ob das Geflüchtete sind, ob das Menschen jüdischen Glaubens sind.“
Auch in diesem Jahr gibt es am Ende der Gala den Preis der Preise, den CIVIS Top Award für eine Produktion, die besonders herausragt. Er geht an das Stück, das sich unter all den journalistisch engagierten und couragierten Einreichungen mit einem der derzeit wohl kompliziertesten Themen auseinandergesetzt hat: „Israel und Gaza – Leben zwischen Terror und Krieg“. Dem Schlusswort des Autors Armin Ghassim applaudiert der Saal lange und heftig: „Es ist wichtig, dass wir alle Menschenleben gleich behandeln und Regierungen und alle Konfliktparteien kritisch hinterfragen.“