Mikrowelten Zinnfiguren. Die Sammlung Alfred R. Sulzer

Neue Sonderausstellung Zinnfiguren im Germanischen Nationalmuseum vom 9. Mai 2024 – 26. Januar 2025

Abb.: „Weltausstellung 1851“ in London mit Queen Victoria und Prinzgemahl Albert als Besucher (Detail), um 1851

Hersteller: Gerhard Böhlke, Berlin

Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg, Zinnfigurensammlung Alfred R. Sulzer

Foto: Germanisches Nationalmuseum, Annette Kradisch

13.05.2024

 

(Nürnberg/gnm) Hochzeiten, Expeditionen, Heeresformationen und ferne Welten – Szenen mit Zinnfiguren zeigen Ausschnitte verschiedener Universen. Alles kommt vor: Adelige in Prunkkutschen, Besucher*innen auf der Weltausstellung, Kunstreiter und Zirkusakrobaten und filigran nachgebildete Baudenkmäler. Eine kleine Sonderausstellung entführt ab Donnerstag, 9. Mai 2024 in faszinierende Miniaturwelten aus Zinn. Sie präsentiert Highlights der rund 145.000 Exemplare umfassenden Sammlung des Schweizers Alfred R. Sulzer, die als Schenkung ans Germanische Nationalmuseum in Nürnberg kommt.

 

„Im Laufe von rund 65 Jahren ist ein beachtlicher Bestand an Zinnfiguren zusammengekommen“, bestätigt Alfred R. Sulzer, „der eine ganze Anzahl außergewöhnlicher Unikate enthält.“ Seine Sammlung ist eine der bedeutendsten weltweit. Die großzügige Schenkung markiert einen Höhepunkt in der Geschichte der Spielzeug-Sammlung des Germanischen Nationalmuseums.

„So hat man Zinnfiguren noch nie gesehen!“, begeistert sich Generaldirektor Prof. Dr. Daniel Hess. „Wer vornehmlich an Zinnsoldaten und Heeresformationen denkt, unterschätzt die große Themenvielfalt, die Geschichte für das Kinderzimmer modellierte. Zinnfiguren lassen Weltbilder und Weltanschauungen vergangener Jahrhunderte aufleben.“

Gleich der erste Raum der Ausstellung deutet die große Vielfalt und den enormen Umfang des Bestands an, der insgesamt Figuren von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg umfasst. Einzeln und in Gruppen, als zusammenhängende Szenen oder noch in Schachteln liegend sind sie hier zu sehen. Die Präsentationsform soll hervorheben, dass ein Set meist erheblich mehr beinhaltet, als in der Sonderschau in einer Vitrine gezeigt werden kann. Angesichts der feinen Ausführung und aufwändigen Bemalung mag man kaum glauben, dass es sich um Kinderspielzeug handelt.

 

Zinnfiguren als spielerisches Lernmedium

Denn wer spielte einst damit? Vermutlich Kinder des Adels und des Bürgertums, denen auf spielerische Weise Kenntnisse über historische Ereignisse, bedeutende zeitgenössische Persönlichkeiten und Informationen von fremden Gegenden – und damit ein bestimmtes Weltbild – vermittelt werden soll-ten. Zinnfiguren veranschaulichen Zeit- und Kulturgeschichte für Kleine. Das Spielzeug brachte nicht nur die Welt ins heimische Kinderzimmer, umgekehrt verkauften Hersteller ihre Produkte in die ganze Welt. Nürnberg und Fürth waren im 19. Jahrhundert die führenden Zentren der Zinnfigurenproduktion.

Die bildliche Darstellung eines Kinderzimmers zeigt, dass Spielzeug im 19. Jahrhundert in nur sehr geringem Ausmaß vorhanden war. Selten ist bekannt, wer genau mit Zinnfiguren spielte. Eine Ausnahme bildet beispiels-weise der „Rittersaal im Residenzschloss zu Hannover“ aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, den Sulzer 2005 bei einer Versteigerung des Welfen-Nachlasses im Auktionshaus Sotheby’s erstand. Nicht unwahrscheinlich, dass einst Ernst II. August von Hannover die Figürchen in Händen hielt.

Zinnfiguren als Lernmedium richteten sich an Mädchen und Jungen. Sie zeigen die Jagd, Frauen bei der Hausarbeit oder bedeutende römische Soldaten.

 

Massenmedium für aktuelles Tagesgeschehen

Vermehrt beeinflusste auch das politische Tagesgeschehen die Motivwahl. Fesselnd ist eine Szene mit Eisbärangriff auf die Polarexpedition von Fridtjof Nansen; die Schachtel kam 1896 auf den Markt, unmittelbar nach Ende der Expedition. Aktuelle Ereignisse ließen sich in Zinn verewigt massenhaft kommunizieren. Mitunter erschienen begleitend kleine Hefte mit Hintergrundinformationen.

Politische Konflikte ab der Mitte des 19. Jahrhunderts, vor allem der Ausbruch des Krimkriegs 1853, und ein sich verstärkender Nationalismus in Europa beförderten die Produktion militärischer Szenerien mit Zinnsoldaten. Sie sprachen vorrangig Jungen an.

Weltliteratur in Zinn

Mit Figuren aus der Weltliteratur, aus Kinderbüchern und Märchen sollten Kindern komplexe Inhalte spielerisch vermittelt werden. Der Gestiefelte Kater, Struwwelpeter oder Robinson Crusoe zeugen in der Ausstellung von diesem Ansinnen der Literaturvermittlung. Die Idee war gut, der Absatz solcher Sets nicht überwältigend, weil es zumeist eines Erwachsenen bedurfte, der Anleitungen zum Erzählverlauf geben musste – was den Spielspaß minderte.

Vergnüglicher waren Menagerien und Zirkusszenen, mondäne Spaziergänger*innen vor dem Arc de Triomphe, Pferderennen und Parkbesucher*innen, die ohne festgelegten Plot inszeniert werden konnten. Zusammen mit Nachbildungen von bedeutenden Bauwerken wie der Nürnberger Frauenkirche oder der Kaiserburg en miniature vermittelten sie neben dem „Kennenlernen“ fremder Städte auch Moden und gesellschaftliche Umgangsformen.

 

Popularität des Zinnsoldaten

Auf der Suche nach nationaler Identität wuchs um 1800 das Interesse am Mittelalter und damit an Ritterfiguren und -turnieren. Der tugendhafte, unbesiegbare Reiter wurde zum Inbegriff von Treue, Mut und Heldentum – und zur beliebten Zinnfigur für Knaben. Bewegliche Arme und Helmvisiere erhöhten den Spielwert.

Auch kriegerische Auseinandersetzungen in und außerhalb Europas wurden als Thema nicht ausgespart. Sie dienten der Darstellung nationaler Stärke, aber auch „fremder Welten“ mit „exotischen“ Motiven. Die Serie „Die Deutsche Flagge in Afrika“ thematisiert die Inbesitznahme Kameruns im Jahr 1884. Um den Fahnenmast haben sich verschiedene Personen versammelt. Die Europäer tragen Uniform, die Afrikaner sind meist mit nacktem Oberkörper zu sehen. Die Inhalte solcher Kästen entsprachen der damaligen offiziellen Lesart, die aus heutiger Sicht eine kolonialistische, mitunter rassistische Haltung offenbart, was nicht ohne Auswirkungen auf das Weltbild Heranwachsender geblieben sein dürfte.

 

Die Größenverhältnisse zwischen Zinnsoldat und Kind schufen zum einen Distanz, zugleich entstand eine große Nähe durch das Spiel, bei dem die Figuren angefasst und nach eigenen Vorstellungen bewegt wurden. Zinnsoldaten brachten Knaben auf subtile Weise mit der noch jungen Geschichte der deutschen Nation in Kontakt und trugen zur Verinnerlichung damaliger Männlichkeitsvorstellungen bei.

 

Rare Ensemble

Den Ausgang der Ausstellung bilden einzigartige Rara: Der Kristallpalast, bombastische 1,30 Meter breit, ist ein solches Unikat. Das Set findet sich in keinem Katalog, es ist bislang das einzige bekannte Exemplar. Pompös wurden Macht und Fortschritt mittels dieses Meisterwerks der Ingenieurskunst demonstriert.

Ferner konnte man Zinnfiguren von Monarchen wie Kaiser Wilhelm I. oder Queen Victoria erwerben, die sich in der Realität volksnah gaben und es dank Spielset auch waren. Es ist unklar, ob diese imposanten Szenerien tat-sächlich ausschließlich als Spielzeug dienten. Sie waren markante Zeichen der Macht und Propaganda, aufwändigst gestaltet und imageprägend – so dass auch eine Aufstellung in einem Schaufenster denkbar wäre.

Zinnfiguren boten vieles: Sie verbreiteten aktuelle Geschichten und Gesellschaftsbilder in ganz Europa und prägten das Weltbild vor allem junger Heranwachsender. Bis heute geben sie faszinierende und aufschlussreiche Einblicke in die Lebenswelt früherer Jahrhunderte.

Die Ausstellung wird großzügig von der Stiftung Zinnfigurensammlung Alfred R. Sulzer unterstützt.

 

 

 

Das Germanische Nationalmuseum (GNM) in Nürnberg ist das größte kultur-geschichtliche Museum des deutschen Sprachraums. Seit seiner Gründung 1852 verbindet es Menschen und Kulturen über nationale Grenzen hinweg. Mit 1,4 Millionen Objekten erforscht und vermittelt das GNM einen bedeutenden Bestand des materiellen Kulturerbes Zentraleuropas. Es ist heute eines der acht Forschungsmuseen der Leibniz-Gemeinschaft.