Was kommt nach der Kirchensteuer?

Theologischer Tag 2024 in Ratzeburg

Die Nordkirche stellt sich den Herausforderungen einer kleiner werdenden Kirche. Die 170 Teilnehmenden des diesjährigen Theologischen Tages in Ratzeburg haben über neue Finanzierungskonzepte und alternative Formen der Gemeindearbeit diskutiert. 

 

15.05.2024

 

(Schwerin / Ratzeburg/dds) - Landesbischöfin Kristina Kühnbaum-Schmidt benannte es in ihrem Eröffnungsimpuls klar und deutlich. „Die Frage der Kirchenfinanzierung ist ein heißes Eisen.“, erklärte die Vorsitzende der Kirchenleitung der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland (Nordkirche) zu Beginn des Theologischen Tages in Ratzeburg. Sie danke der Direktorin des Prediger- und Studienseminars der Nordkirche, Pastorin Dr. Emilia Handke, und der Rektorin des Pastoralkollegs der Nordkirche, Pastorin Dr. Nicole Chibici-Revneanu, sowie deren Teams, dass sie dieses heiße Eisen angepackt haben. 

 

Welche Kirche wollen wir künftig sein?

Nach Überzeugung der Landesbischöfin ist die künftige Finanzierung untrennbar mit der Frage verbunden, wie evangelische Kirche zukünftig sein will. Die Leitende Geistliche der Nordkirche verwies hierbei insbesondere auf zwei Punkte des Zukunftsprozesses, welche die Landessynode als prioritär zu behandelnd benannt hatte: Erstes auf die „Entwicklung neuer Finanzierungsmöglichkeiten in Ergänzung zur Kirchensteuer“ und zweitens auf „Gremien und Entscheidungsstrukturen für Mitglieder öffnen und Beteiligungsmöglichkeiten für Nichtmitglieder prüfen“.

 

Strukturerhalt darf nicht das Ziel sein

Der Theologische Tag biete dafür einen geschützten Diskursraum. „Eine wachsende Bedeutung des Fundraisings, Kultursteuer anstelle der Kirchensteuer wie z. B. in Italien, Spanien oder Ungarn, kreative Engagement-Formen, digitale Gemeinde- und Verkündigungsformen, Sozialraumorientierung – das und vieles mehr gilt es gegebenenfalls kennenzulernen und zu diskutieren, und zwar im Blick auf ganz konkrete Möglichkeiten und Konsequenzen. Es gilt, zu überlegen, ohne Vorurteil nüchtern abzuwägen, zu rechnen, Modelle zu entwickeln und zu diskutieren,“ erklärte die Landesbischöfin. „Vor allem aber gilt es, ins Handeln zu kommen. In ein Handeln, dessen Kern nicht Strukturerhalt - um im Wortsinn: jeden Preis -, sondern die Aufgabe ist, möglichst viele Menschen in Kontakt zu bringen mit der befreienden Botschaft der unbeirrbaren, Versöhnung, Frieden und Gerechtigkeit schaffenden Liebe Gottes.“, appellierte Kristina Kühnbaum-Schmidt.

 

Kirchensteuer wird immer weniger verstanden

Nach den Worten der Landesbischöfin wird das System der Kirchensteuer, das sich in Deutschland lange als zweckmäßig zur Finanzierung kirchlicher Aufgaben erwiesen habe und im ökumenischen weltweiten Kontext als hohes Gut angesehen werde, in Deutschland mittlerweile immer weniger verstanden. „Deshalb fragen viele: Ist es denn nun nicht wirklich an der Zeit, über andere und weitere Formen von Mitgliedschaft nicht nur nachzudenken, sondern sie ggf. auch zu ermöglichen? Mitgliedschaftsformen, die selbstverständlich an die Taufe gebunden sind, die für eine solidarische Mitfinanzierung der kirchlichen Arbeit aber auch andere Modelle ermöglichen könnten als die unlösbare Koppelung mit dem bisherigen Kirchensteuermodell. So sprach die Synode des Mecklenburgischen Kirchenkreis auf ihrer Tagung im April dieses Jahres über Möglichkeiten einer Mitgliedschaft auf Probe oder über Vorstufen zur vollen Mitgliedschaft, die auch schon vor einer möglichen Taufe Teil der Gemeinschaft mit bestimmten Rechten und Pflichten sein lassen könnten.“, erklärte Kristina Kühnbaum-Schmidt. 

 

Gegenwärtigen Entwicklungen und notwendigen Veränderungen im Blick

Im Blick auf die gegenwärtigen Entwicklungen und notwendigen Veränderungen der evangelischen Kirche fragte sie: „Wohin würde es uns führen, wenn Verlustschmerzen unterschiedlichster Art zwar erst genommen und bearbeitet würden, aber dabei zugleich nicht handlungsleitend wären?“ Sie schloss ihren Eröffnungsimpuls mit den ermutigenden Worten: „Mögen wir eine Kirche sein, die sich in allem, was geschieht und was uns widerfährt, von Gottes Zukunft und deshalb von Hoffnung leiten lässt, von Gottes Stimme, die uns beim Namen nennt und vom Tod erweckt, von Christus, der uns die Liebe lehrt, zu der er uns befreit, von der bewegenden Kraft des Heiligen Geistes, die uns aufbrechen lässt zu neuen Ufern. Denn so spricht Gott: „Siehe ich will etwas Neues schaffen, jetzt wächst es auf, erkennt ihr´s denn nicht?!“ (Jesaja 43,18-19)

 

„Die Selbstverständlichkeit von Kirche ist vorbei“

Auch Pastorin Dr. Emilia Handke, Direktorin des Prediger- und Studienseminars, und Pastorin Dr. Nicole Chibici-Revneanu, Rektorin des Pastoralkollegs, die beide mit ihren Teams den Theologischen Tag vorbereitet hatten, verwiesen auf die Notwendigkeit zur Veränderung. Die Zeit der umfassenden Einbettung von Kirche in die Gesellschaft, die Selbstverständlichkeit von Kirche ist vorbei, so die beiden Pastorinnen in ihrer Einführung. „Genau deswegen wollen wir ins Gespräch kommen über Fundraising, Ritualagenturen oder Maßnahmen der Mitgliederkommunikation“, so Emilia Handke und Nicole Chibici-Revneanu. Die entscheidende Frage nicht nur dieses Theologischen Tages sei, so die beiden Pastorinnen: „Wie wird die Kirche sein, in der wir unseren unterschiedlichen Dienst tun?“

 

Alternative Finanzierungsmodell betonen persönliche Beziehungen

Nach Begrüßung und Eröffnungsimpuls folgten die Vorträge von Prof. em. Dr. Christian Grethlein (Prof. für Praktische Theologie, Münster) und Erik Flügge (Autor und Dozent, Köln). Erik Flügge war digital zugeschaltet.

Professor Christian Grethlein formulierte folgende Thesen: 

  • Seit 1972 zeigt sich, dass die Kirchensteuer in Deutschland an Zustimmung verliert, und heute sind vor allem jüngere Menschen vom Kirchenaustritt betroffen. Dabei geht die heutige Kommunikation in der Religion weg von autoritären Aussagen hin zu persönlichen Erfahrungen, was auch die Art der Finanzierung beeinflusst.
  • Die Verbindung von Kirchenmitgliedschaft und Kirchensteuer führt zu praktischen und theologischen Problemen, die alternative Finanzierungsmodelle notwendig machen. Diese alternative Finanzierungsmodelle wie die Mandatssteuer und Fundraising betonen persönliche Beziehungen und eine genauere Profilierung der Verwendung von Spenden.
  • Die Abschaffung der Kirchensteuer erfordert einen grundlegenden Umbau der Kirchenorganisation hin zu einem flexibleren Netzwerk, das stärker auf diakonische Aktivitäten, ökumenische Kooperation und alltagsnahe Kirchenpraxis setzt. Professor Grethlein hält dabei eine Absenkung der Kirchensteuer um jährlich einen Prozentpunkt für denkbar.

Erik Flügge legte den Fokus in seinem Vortrag auf:

  • Das Christentum wird unabhängig von Diskussion um Finanzierung von Kirche weiterbestehen. Es gibt aus Sicht von Erik Flügge kein alternatives religiöses Angebot. Allerdings wird sich Kirche radikal ändern, denn die heutige Kirche ist eine „Kirche im Behördengewand“ und untrennbar an das System Kirchensteuer gebunden.
  • Künftige Pfarrpersonen müssen in erster Linie unternehmerisch denken, in der Kirche hat das Modell „Behörde“ eine Ablaufzeit. Das heißt nach den Worten von Erik Flügge, dass „Kundenbeziehungen“ aufgebaut und marktgerecht agiert werden muss.
  • Veränderung muss radikal passieren, sonst erfolgt statt Veränderung nur Schrumpfung.
  • Sein Vorschlag: Jedes Kirchenmitglied bestimmt selbst über die Verwendung seiner Kirchensteuer - so würde nach der Ansicht von Herrn Flügge ein Wettbewerb im Sozialraum entstehen. Dieser Wettbewerb würde entscheiden, was weiterfinanziert wird und was nicht. So würde die Form von Kirche entstehen, die von den Mitgliedern gewollt ist. Seine Prognose: Die Mitglieder würde lokale Projekte stärken und weniger zentralistische Strukturen. 

Workshops mit unterschiedlichen Schwerpunkten

Nach dem Eröffnungsimpuls von Landesbischöfin Kristina Kühnbaum-Schmidt und den beiden Vorträgen von Prof. Christian Grethlein und Erik Flügge setzten insgesamt neun Workshops sehr unterschiedliche Schwerpunkte.

 

Workshop „Vom Theologen zur Managerin? - Innovative Finanzierungsmodelle für die Gemeinde“ (Heike Hardell, Oberkirchenrätin, Leiterin Finanzdezernat des Landeskirchenamtes, Kiel, Tobias Kandel, Fundraiser, Kirchenkreis Hamburg-West / Südholstein, Hamburg)

Die Grundthesen von Oberkirchenrätin Heike Hardell und Tobias Kandel lauten:

  • Die Kirchensteuer bleibt noch eine relevante, wenn auch massiv zurückgehende Finanzierungssäule.
  • Kirche bleibt wichtig, braucht jedoch neue, zusätzliche Finanzierungswege.
  • Neue Lösungsansätze in der Kirche benötigen einen Raum für Erneuerung und Veränderung.

Workshop „Auf dem Weg zu einer Dienstleistungskirche: Das Beispiel st. moment“ (Pastorin Meike Barnahl, Leiterin Ritualagentur st. moment, Hamburg und Team)

Die Grundthesen von Pastorin Meike Barnahl lauten:

  • Serviceorientierung ist kein Sakrileg. Wenn wir uns an Jesu Worten orientieren „Was willst du, dass ich dir tue“ entwickeln wir eine innere Servicehaltung, die nicht mehr und nicht weniger ist, als zu dienen. So können wir uns mit den Schätzen unseres Glaubens und unserer Religion im Gepäck mitten in der Welt bewegen und begegnen Menschen auf Augenhöhe.
  • Die Sehnsucht in den unterschiedlichen Milieus ist groß nach Segen, nach Begleitung und nach „Passt zu mir“. In der Kirche beginnt die Antwort heute noch oft mit einem ABER: das passt nicht in unsere Tradition, nicht in unsere Struktur, nicht in unseren Terminkalender, nicht zu unserem Geschmack… Es wird Zeit, dass wir das ABER in ein UND verwandeln: UND wir hören genau hin, UND wir gestalten mit den Menschen gemeinsam auf Augenhöhe (Co-Kreation), UND wir trauen ihnen alles zu – vor allem auch Kompetenz und Ernsthaftigkeit in ihrer Sehnsucht und ihrem Suchen, UND nicht zuletzt: wir trauen Gott alles zu!
  • Wir haben nicht den Auftrag, Segen zu verwalten, sondern zu verschenken und das Evangelium mit aller Welt zu kommunizieren.

Workshop „Zur Zukunft der Ortsgemeinde“ (Mathias Lenz, Oberkirchenrat, Leiter Dezernat Personal im Verkündigungsdienst, Kiel)

Die Grundthesen von Oberkirchenrat Mathias Lenz lauten:

  • In Zukunft ist die Ortsgemeinde eine Form der christlichen Gemeinde.
  • Eine christliche Gemeinde ist: Menschen in Gemeinschaft, bei denen Gott mit dem Evangelium von Jesus Christus in Wort und Sakrament zur Sprache kommt. Deswegen führen Menschen in dieser Gemeinschaft ihr Leben so, dass es am Evangelium orientiert ist und für andere Begegnung mit dem Evangelium ermöglicht.
  • Gemeinde als Netzwerk von Beziehungen ist unabhängig von ihrer Organisationsform. Sie kann institutionell gefasst, aber auch frei organisiert sein. Sie kann sich örtlich, sozialräumlich oder thematisch konstituieren, sie kann lokal oder auch digital sein und auch nur auf Zeit bestehen.
  • Grundsätzliches Kennzeichen für eine „funktionierende“ Gemeinde ist, dass die Arbeit so läuft, dass der Auftrag der Kirche erfüllt wird und Menschen Freude haben, daran mitzuwirken.

Workshop „Feiern mit dem, was da ist. Ein Experiment auf den Straßen Ratzeburgs“ (Sindy Altenburg, Studienleiterin des Pastoralkollegs, Ratzeburg, Anne Hala, Regionalmentorin des Predigerseminars, Ratzeburg)

Pastorin Sindy Altenburg und Pastorin Anne Hala wollen auf dem Marktplatz Ratzeburg ein spontanes kleines Fest feiern. Frei nach dem Motto: Wir probieren aus, was es bedeutet, mit wenig Mitteln eine feiernde Kirche zu sein.

Ihre Grundthesen lauten:

  • Das offene Experiment wird in der Kirche der Zukunft und der Gegenwart eine wesentliche Form sein, in der wir Gemeinschaft leben.
  • Dies verlangt eine fragende, suchende, improvisierende Haltung, die es zu üben gilt.
  • Zu entdecken, was schon da ist und was mit dem Vorhandenen möglich ist, kann zu Spuren von Wundern und zu fröhlicher Fülle führen – ganz anders als erwartet.

Workshop „Zur Netflixisierung der Gemeinde“ (Jonas Goebel, Pastor, Hamburg)

Die Grundthesen von Pastor Jonas Goebel lauten:

  • Die Gemeindearbeit wird vielfältiger und lebendiger, wenn möglichst viele Gruppen und Angebote nicht als fortlaufende Veranstaltungen, sondern als zeitlich begrenzte Projekte verstanden werden.
  • Es lassen sich deutlich mehr Ehrenamtliche mit diesem Ansatz gewinnen und auch dauerhaft halten - da das sog. neue Ehrenamt wirklich ernst genommen wird.
  • Gleichzeitig zeigt sich in der Praxis, dass das Konzept nicht einfach „übergestülpt" werden darf und kann. Es wird (muss!) in der Gemeinde auch weiterhin fortlaufende/dauerhafte Angebote geben.

Workshop „Aporien und Paradoxien in der Transformation: Plädoyer für eine fidele Apokalyptik“ (Dino Steinbrink, Studienleiter des Pastoralkollegs, Ratzeburg)

Die Grundthesen von Pastor Dino Steinbrink lauten:

  • Kirche als Hybrid produziert zwischen Organisation und Gruppe/Bewegung Aporien und Paradoxien, die Transformation hemmen.
  • Der Blick auf Strukturwandel hat einen blinden Fleck auf den notwendigen Wandel der Organisationskultur.
  • Apokalypse wird als Weltuntergang missverstanden, beschreibt aber lediglich das Ende des Bestehenden zugunsten eines Neuen, auch guten. Johannes‘ Reiter Hunger, Krieg und Tod sind die „facts of life“ seiner Zeit, unsere Reiter sind die Megatrends wie New Work, Urbanisierung, demografischer Wandel
  • Systemisch ist die Situation auf landeskirchlicher Ebene „chaotisch“ (Dinge ereignen sich schneller, als man über sie diskutieren kann), daher gilt es in komplizierten oder komplexen Systemen (Kirchengemeinden und Regionen) divergente Lösungen für die Transformation des jeweiligen Systems zu suchen.

Workshop „Den kreativen Ideen folgt das Geld!“ (Jörg Stoffregen, Diakon, Netzwerk Kirche inklusiv, Hamburg, Jonas Görlich, Pastor, Lohmen)

Die Grundthesen von Diakon Jörg Stoffregen und Pastor Jonas Görlich lauten:

  • Kreative Ideen wachsen aus einer gemeinsamen Vision vor Ort.
  • Das Geld folgt den kreativen Ideen vor Ort.
  • Wir müssen unsere Arbeit in Projekten definieren, die für die Menschen eine Alltagsrelevanz haben und an denen sie sich in vielfältiger Weise, auch mit Ihrem Geld, beteiligen können.
  • Die Frage der Finanzierung muss im kreativen Prozess der Projektentwicklung mitgedacht werden.

Workshop „Zwischen Tradition und Tabubruch: Kultur.Feldstein.Kirche Recknitz im Spannungsfeld von Aufbruch und Abbruch“ (Axel Meier und Johannes Kretschmann, Gemeindepädagogen, Recknitz und Team)

Die Grundthesen von Axel Meier und Johannes Kretschmann lauten:

  • Radikale Abkehr von Traditionen oder zeitgemäße Einbettung von Wohlbekanntem?
  • Erneuerung muss mit Risikobereitschaft und Mut einhergehen.
  • Kirche braucht das radikale Businessdenken von dynamischen Start Ups.

Workshop „Von der Kirchenmusik lernen heißt ... Von Bandenwerbung, Vereinswappen und Schlüsselspieler*innen“ (Jan Simowitsch, Kirchenmusiker, Referent für Popularmusik in der Nordkirche, Hamburg)

Die Grundthesen von Jan Simowitsch lauten:

  • Unsere Formate von Konzert bis Gottesdienst werden in den nächsten Jahren zum Teil verschmelzen.
  • Wir werden das Machtgefälle zwischen Pastor*innen und Kirchenmusiker*innen abbauen müssen, wenn wir wirklich professionsübergreifende Teams etablieren wollen.
  • Um als Kolleg*innen in dem Job gesund bleiben zu können, werden wir weniger Veranstaltungen aller Art tun müssen und das Weniger mit mehr Kreativität und Team, also dem, was uns Kraft gibt.

 

Weitere Informationen unter www.pastoralkolleg-rz.de und www.vikariat-nordkirche.de


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Kommentare: 4
  • #1

    Gert Holle (Mittwoch, 15 Mai 2024 08:18)

    Ein Studientag mit interessanten Aspekten. Viele der genannten Thesen wurden bereits von mir und zwei Kollegen im Jahr 1997 in der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau angedacht, in der gegründeten Aktionsgemeinschaft "Friedberger Kreis" diskutiert und in einem "Friedberger Wort" festgehalten. Ziel damals war es, mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Kirche und Kirchenmitgliedern allgemein ins Gespräch zu kommen über die Frage: "Welche Kirche brauchen wir? Welche Kirche brauchen die Menschen? Wie kann Kirche in Zukunft aussehen?

    Eine Replik - 27 danach:

    „Aktives Gestalten statt Diktatur der Finanzen“

    „Aktives Gestalten statt Diktatur der Finanzen“ – unter diesem Motto gründeten drei angehende Pfarrer 1996 (Gert Holle, Frank Albrecht und Marcus Kleinert) den „Friedberger Kreis“. Ziel: Die unterschiedlichen Berufsgruppen innerhalb der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau miteinander über die Frage ins Gespräch zu bringen: „Welche Kirche wollen wir, welche Kirche brauchen wir?“ -
    Vor 20 Jahren, am 15. April 1997, verteilte der FRIEDBERGER KREIS an alle Dekanate und Gemeinde innerhalb der Evangelischen Landeskirche Hessen und Nassau ein Papier mit dem Ziel, eine breit angelegte Diskussion über die Zukunft der Kirche einzuleiten.

    FRIEDBERGER KREIS:
    EIN WORT ZU GEGENWART UND ZUKUNFT DER EVANGELISCHEN KIRCHE IN HESSEN UND NASSAU

    Liebe Christinnen und Christen in der EKHN,

    vor 50 Jahren hat sich in der Burgkirche zu Friedberg die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau gegründet. Seit dieser Zeit war sie in vielfältiger Weise gemäß des Auftrags ihres Herrn Jesus Christus für den Nächsten da. Organisationsstrukturen bildeten sich heraus, die diesen Dienst in den verschiedensten Arbeitsfeldern engagiert und professionell ermöglichten. Mit dem presbyterial-synodalen System und einem Leitenden Geistlichen Amt an Stelle eines Bischofs wurde die Beteiligung aller Mitglieder an Entscheidungen angestrebt.

    Im Jahre 1997 – angesichts zu erwartender finanzieller Einbußen und eines vorauszusehenden Rückganges der Kirchenmitgliederzahl – sehen sich die Verantwortlichen zu einem rigorosen Sparkurs gezwungen. Die Folgen davon werden u.a. tiefe qualitative und quantitative Einschnitte in Verkündigung, Seelsorge und Diakonie sein. Immer weniger Menschen werden von der Kirche erreicht in einer Zeit der Orientierungslosigkeit und sozialen Kälte.

    Bei einem Gedankenaustausch im Februar dieses Jahres in Friedberg zwischen Vikarinnen und Vikaren und dem Sprecher des Leitenden Geistlichen Amtes, Dr. Peter Steinacker (Kirchenpräsident), hat dieser die Aufforderung ausgesprochen, Konzepte für die Zukunft unserer Kirche zu entwerfen.
    Aus der Liebe zu und der Sorge um unsere Kirche haben sich daraufhin junge engagierte Theologen zum FRIEDBERGER KREIS zusammengefunden.
    Wir legen mit diesem Papier Thesen zu Gegenwart und Zukunft unserer Kirche als Diskussionsgrundlage vor und rufen alle Kirchenmitglieder auf, diese Thesen kritisch zu überprüfen und auf allen Ebenen zu diskutieren.

    Reichen Sie bitte dieses Papier weiter an Freunde und Bekannte, Kirchenvorsteher und alle kirchlich engagierten und interessierten Menschen in ihrer Gemeinde. Gestalten Sie die Zukunft unserer Kirche mit! Lassen Sie nicht zu, dass marktwirtschaftliche Gesetze Vorrang vor dem Auftrag Jesu Christi gewinnen.
    Helfen Sie, dass deutlich wird, welcher Kirche die Menschen bedürfen.

    Das FRIEDBERGER WORT ist ein Bekenntnis zu einer Kirche, die auf anderen Grundlagen steht als Sparmaßnahmen, Marktwirtschaft und Konkurrenzdenken.

    Friedberg, 15. April 1997

    Frank Albrecht, Gert Holle, Markus Kleinert


    (Fortsetzung im nächsten Post)

  • #2

    Gert Holle (Mittwoch, 15 Mai 2024 08:21)

    THESENPAPIER

    Kirche heute Kirche morgen
    Mc Kinsey Evangelium
    Personalkürzung Christliche Glaubwürdigkeit
    Kirchenverkauf Kirche mit Leben füllen
    Kirche und Wirtschaft Kirche für die Menschen
    Vom Dienen zur Dienstleistung „Wer unter Euch der Größte sein will, soll euer aller Diener sein.“ (nach Mk 10,43)
    Unser Auftrag: Ressourcenkonzentration Phantasie und Kreativität für unseren Auftrag
    Assessmentverfahren: Survival of the fittest Gemeinsam den Weg gehen
    Von der Volks- zur Elitekirche Volkskirche mit Geh-Hin-Struktur


    Kirche heute – wie sie uns missfällt

    1. Identität und Sinn der Kirche wird heute in dreifacher Hinsicht infrage gestellt:
    a. Die Gestalt der Kirche wird kritisiert
    b. Es wird die Frage gestellt, ob Kirche überhaupt eine verfasste Gestalt braucht
    c. Kirche steht in Konkurrenz zu vielen Anbietern auf dem religiösen Markt, die Antworten auf Sinnfragen geben wollen.
    2. Die größte Gefahr für die Kirche besteht nicht in erster Linie in den fehlenden Finanzen, sondern in der Anonymität und Undurchschaubarkeit des Funktionärswesens.
    3. Kirche präsentiert sich als „modernes Wirtschafts- und Dienstleistungsunternehmen“, für das Slogans und Schlagworte wie „Vom Dienst zur Dienstleistungskirche“, Ressourcenkonzentration, Personalkürzungen, Effizienz, „Evangelisch aus gutem Grund“ kennzeichnend stehen.
    4. Aus Schweigen wächst Misstrauen. Zu oft verlaufen die kirchlichen Kommunikationsstrukturen in Einbahnstraßenrichtung. Viele Meinungen und Bedürfnisse können nicht wahrgenommen werden.
    5. Die Synode repräsentiert keineswegs die vielfältigen Meinungen und die vielgepriesene Pluralität der Kirche.
    6. Abweichungen von der allgemeinen Meinung werden leicht als Störungen des innerkirchlichen Friedens empfunden.
    7. Die Geistlichkeit verwaltet die Wahrheit.
    - Wenn Geistlichkeit zugleich die Leitung der Gemeinde innehat, liegen Wahrheit und Recht automatisch auf Seiten der Leitung.
    8. Die Kopplung von staatlichen Steuereinnahmen und der Kirchensteuer belässt die Kirche in der Abhängigkeit von finanzpolitischen Entscheidungen. Diese sollten aber gerade von der Kirche mit wachen und kritischen Augen begleitet werden.


  • #3

    Gert Holle (Mittwoch, 15 Mai 2024 08:21)

    Kirche von morgen – wie sie uns gefällt
    1. Das Evangelium steht im Mittelpunkt kirchlicher Arbeit – nicht Finanzen.
    2. Chancen liegen in einer verbesserten Sprachfähigkeit und der Schaffung einer werbenden und einladenden Atmosphäre.
    3. Eine Geh-Hin-Struktur ist vorrangiges äußeres Kennzeichen in einer Kirche, in der es um Gott und den Menschen geht. Ängste und Nöte werden wahrgenommen, wo sie entstehen.
    4. Die Kirche von Morgen zeichnet sich aus als Ort:
    a. Zur religiösen Deutung biographischer Erfahrungen (Taufe, Konfirmation, Trauung, Bestattung)
    b. Zur Verarbeitung unserer prekären Sozialbeziehungen
    c. Zur Klärung und Stärkung individueller Lebensgewissheit
    5. Kontakte mit Kirche sind nicht auf die Ortsgemeinde beschränkt
    6. Kirche ist als Volkskirche weiterhin Kirche für andere. Dabei muss sie nicht ständig auf Mitgliedergewinn schielen.
    7. In einer lebendigen Kirche gehen wir den Weg durch schwierige Zeiten mit Kreativität und Phantasie gemeinsam.
    8. Die Einsicht in die gegenwärtige gesamtgesellschaftliche Wirklichkeit und in die sie prägenden Grundkräfte ist Ausgangspunkt für verantwortungsvolles Planen und Gestalten. Visionen haben vor diesem Hintergrund ihren Ort, ohne dass immer gleich nach Machbarkeit gefragt wird.
    9. Zukunft planen bedeutet einen bewussten Verzicht auf ein durchgehendes Modell der Kirchengestallt. Unter der reformatorischen Maxime „ecclesia semper reformanda“ wird sich jede Kirchenreform durch ihre schöpferische Kraft im Dasein für andere erweisen.
    10. Kirche und Theologie geben Auskunft zu gesellschaftlichen, sozialen und individuellen Fragen, wobei die christliche Hoffnung unter dem Kennwort und dem Antrieb der Auferstehung Jesu steht.
    11. Die Ausbildung des kirchlichen Nachwuchses ist den gesellschaftlichen Erfordernissen und dem Auftrag der Kirche angemessen. Gutes und engagiertes Personal ist weiterhin ein Identifizierungsmerkmal einer Kirche für andere, die sich auf Jesus, „dem Menschen für andere“, beruft.
    12. Ziel der Kirche ist nicht sie selber. Sie steht in einem kritischen Dialog nach allen Seiten, wobei eine gemeinsame Sprache Grundlage eines kritischen Meinungsaustausches ist.
    13. Ein pluralistisches Selbstverständnis und eine plurale Praxis auf allen Ebenen sind die Voraussetzungen für eine offene Darstellung der Kirche in ihren synodalen Gremien.
    14. Eine dialogische Kommunikation ist Kennzeichen für gelebte Demokratie. Niemand kann mitreden und mitentscheiden ohne Bescheid zu wissen. Engagement, Mitarbeit und damit verantwortliche Demokratie liegen entscheidend an den Informationen.
    15. Veröffentlichungen über die Arbeit und die Diskussions- und Entscheidungsprozesse sind frei von kirchenamtlicher Bevormundung.
    16. Eine genaue, schnelle und umfassende Information der Synodalen trägt entscheidend zu einer Versachlichung der Auseinandersetzung und zu einer Beschleunigung der Entscheidungsvorgänge bei.
    17. Eine Flexibilisierung der Kircheneinnahmen im Blick auf die Erfordernisse und Bedürfnisse der Menschen bedeutet nicht automatisch die Abkopplung vom staatlichen Steuereinzugssystem. Ein Nachdenken und die Diskussion über alternative Finanzierungsmodelle wird phantasievoll und vorurteilsfrei geführt.

    *********************************************************
    (Fortsetzung im nächsten Post)

  • #4

    Gert Holle (Mittwoch, 15 Mai 2024 08:22)

    FRIEDBERGER WORT

    Wachet, steht im Glauben, seid mutig und seid stark! (1. Kor 16,13)

    Seid nicht träge in dem, was ihr tun sollt. Seid brennend im Geist. Dient dem Herrn. Seid fröhlich in Hoffnung, geduldig in Trübsal, beharrlich im Gebet (Röm 12,11.12)

    Wir bekennen, dass wir als Mitglieder der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) brennend im Geist und fröhlich in der Hoffnung, geduldig in Trübsal und beharrlich im Gebet die Botschaft Jesu Christi mutiger und stärker in Wort und Tat verkündigen wollen.
    Jesus hat durch Taten die Menschen bewegt, auf die Botschaft zu hören. In seiner Nachfolge wollen wir gerade in einer Zeit des sozialen und gesellschaftlichen Umbruchs mit unserem Reden und Handeln für andere da sein.

    Auferlegte Sparzwänge dürfen kein Vorwand sein, dem Dienst für Gott und an unseren Nächsten zu mindern oder gar einzustellen.

    Wo Menschen Nächstenliebe erfahren, kann Glaube wachsen. Wo wir unsere Ideen, unsere Kräfte und unsere materiellen Möglichkeiten einbringen, wird die Frage, was Kirche ist, beantwortet. DIE KIRCHE SIND WIR, die wir uns auf Jesus Christus und seine Zusage des Gottesreiches einlassen. Wo wir uns einsetzen für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung bleibt die EKHN Kirche für uns und andere.

    Wir mit unseren vielfältigen Gaben und Glaubens- und Lebenserfahrungen gestalten Kirche in Gemeinden und überregionalen kirchlichen Einrichtungen, in Kirchenvorständen und Synoden.

    Dabei sind wir auf notwendige Rahmenbedingungen angewiesen, wenn unser Engagement auch in Zukunft Früchte tragen soll.

    Wir sind für:
    - Eine demokratische Struktur unserer Kirche. Dazu muss eine klare Aufgaben- und Gewaltenteilung der gesetzgebenden (Synode) und ausführenden (Kirchenverwaltung) Organe garantiert sein.
    - Ein durchdachtes und verantwortungsvolles Handeln auf allen kirchlichen Ebenen. Voraussetzung dafür ist ein von den Entscheidungsträgern unabhängiger Informationsfluss
    - Die Gewährleistung des Dienstes am Nächsten durch qualifizierte Fachkräfte. Dazu muss ein von der staatlichen Steuerpolitik unabhängiges Kirchensteueraufkommen angestrebt werden.
    -
    Dafür wollen wir jetzt und in Zukunft stärker und mutiger eintreten, im Dienst für Gott und Jesus Christus sowie für unsere Mitmenschen.

    Alle eure Dinge lasst in der Liebe geschehen! (1. Kor 16,14)

    *****************************


    NACHWORT

    Viele beugten sich damals dem Sparzwang. Nach dem Rasenmäherprinzip wurden wichtige Bereiche beschnitten. Die Initiatoren des Friedberger Kreises wurden in alle Winde zerstreut – doch die Idee blieb: Miteinander über Glaubensfragen und Gemeinschaften ins Gespräch kommen.

    In der Folge der damaligen Überlegungen entwickelte ich 2002 das unabhängige ökumenische Internetportal GlaubeAktuell mit dem Ziel, die Kommunikation zwischen Gläubigen, zwischen Gemeinden, aber auch zwischen Menschen, die einen von Kirche losgelösten Bezug zu Glaubensfragen haben, zu fördern. „Weil wir die Beschäftigung mit religiösen Fragestellungen in die Lebenswirklichkeit unserer Leserinnen und Leser stellen, erreichten wir im vergangenen Jahr (2016), 20 Jahre nach Gründung des FRIEDBERGER KREISES regelmäßig über 20.000 Menschen am Tag.“ Gert Holle