Der „müde Mann“ Europas braucht mehr als Gehhilfen. Der Stifterverband startet mit der deutschen Wirtschaft die „Zukunftsmission Bildung“. Ziel: das Bildungssystem soll zügig in die Lage gebracht werden, mehr Menschen mit den notwendigen Kompetenzen auszubilden. Best practice: Die Stiftung Louisenlund in Schleswig-Holstein an der Schlei zeigt schon heute wie das geht.
Deutschland ist nicht mehr wettbewerbsfähig, das Bildungsniveau von Bewerbern rückläufig, in Talente und Bildung wurde in den letzten Jahren nicht mehr investiert. Auch die Pisa-Studie der OECD erschüttert aktuell das Bildungswesen in Deutschland. Dreiviertel der befragten Eltern glaubt nicht, dass Schule ihrer Rolle als Vermittlerin von Zukunftskompetenzen gerecht wird. Immer lauter werden die Stimmen nach einer grundlegenden Neuausrichtung in der Bildung. Deutschland auch als der „müde Mann“ Europas bezeichnet, braucht mehr als Gehhilfen. Der Stifterverband startet mit der deutschen Wirtschaft die „Zukunftsmission Bildung“. Ziel: das Bildungssystem soll zügig in die Lage gebracht werden, mehr Menschen mit den notwendigen Kompetenzen auszubilden. In Zusammenarbeit mit Wirtschaft, Politik, Zivilgesellschaft und Wissenschaft sollen neue Allianzen geschmiedet und visionäre Beispiele aufgespürt werden. Fest steht: Bildung spielt für die Bewältigung der vielfältigen und komplexen Herausforderungen der Menschheit eine wesentliche Rolle. Ein hochwertiges Schulwesen schafft das Rüstzeug für die künftige Gestaltung unserer Gesellschaft und Kompetenzen für eine Welt im Wandel.
Wie kann die Zukunftsmission Bildung für das 21. Jahrhundert aussehen? Fünf Fragen an Dr. Peter Rösner, Physiker und Leiter der Stiftung Louisenlund, der heute umsetzt, was Wirtschaft und Stifterverband für morgen fordern.
Frage 1: Die Wirtschaft fordert aktuell, radikal in Bildung zu investieren, um Deutschland wieder wettbewerbsfähig zu machen. Müssen wir Bildung komplett verändern, um junge Menschen angemessen auf exponentiellen Wandel, Unsicherheiten – aber auch stärkere Konkurrenz in den Arbeitswelten vorzubereiten? Muss ein radikales Umdenken in der Bildung stattfinden?
Als Leiter der Stiftung Louisenlund bin ich überzeugt, dass ein radikales Umdenken im deutschen Bildungssystem nicht nur notwendig, sondern unausweichlich ist, wenn wir junge Menschen ernsthaft in der Entwicklung ihrer individuellen Persönlichkeit und ihrer sozialen sowie fachlichen Kompetenzen unterstützen möchten. Die Schülerinnen und Schüler möchten zu Recht von ihrer Schule und diesem Land auf die Herausforderungen und Chancen komplexer Veränderungen, wachsender Unsicherheiten und der zunehmenden Konkurrenz durch KI-Systeme in der Arbeitswelt vorbereitet werden.
Sie möchten als Menschen widerstandsfähig, optimistisch und erfolgreich an den Entwicklungen der Zukunft teilhaben und ihr Leben selbst gestalten können. Sie möchten Verantwortung für das eigene Lernen übernehmen können. Die Schule sollte dazu befähigen können. Deshalb fordern der Stifterverband und die deutsche Wirtschaft neben anderen zu Recht eine Neuausrichtung der Bildung in Deutschland. Das traditionelle Bildungssystem, das immer noch von gleichen Voraussetzungen und Bedürfnissen der Lernenden ausgeht, ist in starren Strukturen und veralteten Lehr- und Lernmethoden verhaftet. Es wird den Anforderungen der heutigen Zeit kaum noch gerecht.
Wenn dann grundlegende Erfolgsfaktoren wie eine ausreichende Anzahl gut ausgebildeter Fach- und Lehrkräfte in Kitas und Schulen oder zeitgemäße Bildungsbauten seit vielen Jahren nicht bedarfsgerecht vorhanden sind, läuft etwas schief in diesem Land. Die Situation in den Schulen hat sich im Vergleich zu unserer eigenen Schulzeit radikal verändert. Deutschland ist inzwischen eines der Top-Einwanderungsländer dieser Welt. Der Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund in Schulen liegt durchschnittlich bei 40 %, in vielen Schulen deutlich darüber. Wie reagieren wir auf diese Superdiversität im Schulsystem? Zurzeit mit steigender Überforderung und sich zunehmend verschlechternden Rahmenbedingungen. Die Bundeswehr soll kriegsfähig werden, die Schulen müssen wieder bildungsfähig werden. Die Zeitenwende betrifft auch das Lernen in Deutschland. Leider haben die Kinder keine große Lobby. Deshalb freue ich mich sehr, dass sich sehr langsam ein breiter gesellschaftlicher Konsens bildet, der den leider notwendigen Veränderungsdruck erzeugt.
Frage 2: In der Schule sollte es nicht nur um Wissensvermittlung, sondern vor allem auch um Persönlichkeitsentwicklung gehen. Darum, eigenständig, zukunftsorientiert und kreativ darüber nachzudenken, wie mit Herausforderungen umzugehen ist. Kreativität, Vorstellungskraft, kritisches Denken, Umgehen mit Komplexität - welche Form braucht Schule, um diese Kompetenzen zu vermitteln - und wie haben Sie diese Komplexität am Beispiel von Louisenlund gelöst?
In der Tat steht die Schule vor der Herausforderung, nicht nur dringend notwendiges Wissen, Fähigkeiten und Kompetenzen zu vermitteln, sondern auch die individuelle Persönlichkeitsentwicklung zu fördern. Die jungen Menschen sollen und wollen eigenständig, zukunftsorientiert, kreativ und verantwortungsvoll mit Herausforderungen umgehen können. In Louisenlund haben wir diese Aufgabe als Schulträger angenommen und ein Bildungskonzept entwickelt, das nicht vom Lehren, sondern vom Lernen her gedacht und organisiert ist.
Entscheidend ist unser Verständnis von Schule. Sie ist für uns ein lebendiger, sich ständig weiterentwickelnder, lernender Organismus, der über die traditionellen Grenzen von Klassenräumen und festen Klassenstrukturen hinausgeht. Sie ist kein Ort der Bewertung, sondern der Entwicklung. Kooperationen mit Wissenschaft, Wirtschaft und Kultur bereichern das Schulleben und schaffen Realitätsnähe - sowohl für Lehrende als auch Lernende. Unsere speziell für die Pädagogik konzipierten Schulgebäude mit großen offenen Lernflächen sind so gestaltet, dass sie die Zusammenarbeit, den Austausch und die kreative Auseinandersetzung mit Lerninhalten fördern, aber auch konzentriertes Arbeiten ermöglichen. Schule ist ein spannender Ort der Begegnung und der Vielfalt. Diese räumliche und organisatorische Flexibilität fordert unser pädagogisches Konzept, das kompetenzorientiert ist und die Vielfalt sowie das personenzentrierte Lernen in den Mittelpunkt stellt.
In Louisenlund verstehen wir Lernen als einen ganzheitlichen, werteorientierten Prozess, der kognitive, physische, soziale und mentale Herausforderungen beinhaltet. Wir respektieren die Einzigartigkeit jedes Lernenden und fördern sie als Teil der Gemeinschaft. Kritisches Denken, problemlösendes Arbeiten, Kommunikation, Kollaboration, Informationskompetenz, der Umgang mit digitalen Medien und das Verständnis, Teil der Louisenlunder Gemeinschaft zu sein und Verantwortung zu tragen, sind integraler Bestandteil unserer Pädagogik, die ihren Ursprung in der Erlebnispädagogik der 1950er Jahre hat. Die Schülerinnen und Schüler lernen, in allen Dimensionen des Lebens zu agieren und können sich ausprobieren. Die Rolle der Lehrenden und Mentoren verändert sich dadurch nachhaltig. Sie wird anspruchs- und verantwortungsvoller, aber auch bereichernder. Lehrende sollten die berufliche Avantgarde in diesem Land werden. Sie sollten Change Agents am Puls des Wandels sein, die jungen Menschen in einer entstehenden Zukunft Orientierung geben können.
In Louisenlund befinden wir uns in einem kontinuierlichen Prozess, der diese Prinzipien in die Praxis umsetzt und ein Bildungsumfeld schafft, das nicht nur auf die Vermittlung von Wissen ausgerichtet ist, sondern auch darauf, junge Menschen zu befähigen, kreativ und kritisch zu denken, Komplexität zu navigieren und aktiv an der Gestaltung ihrer eigenen Zukunft und der unserer Gesellschaft mitzuwirken.
Frage 3: Die PISA-Studie 2023 zeigte: Jugendliche schneiden in Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften so schlecht ab wie nie zuvor. Gleichzeitig fragen Schülerinnen und Schüler: Was muss man noch wissen, wenn es doch Suchmaschinen gibt? Wie können sie Schulbildung in Zeiten von Texterfassung, KI und Übersetzungstools heute verstehen – braucht es den klassischen Bildungs-Kanon überhaupt noch?
Die Antwort auf die Herausforderungen liegt nicht in der Abkehr von Bildung, sondern in ihrer Neuausrichtung und dem damit verbundenen Umgang mit der Vielfalt von Persönlichkeiten, Talenten und Bildungsbiografien. Wir sollten die Schülerinnen und Schüler darauf vorbereiten, in einer Welt, die von Informationsfülle, Technologie und ständigem Wandel geprägt ist, möglichst glücklich, gesund und erfolgreich zu sein. Dazu gehört, dass sie umfassende Bildung erleben können. Dazu gehören Naturwissenschaften, Mathematik, Sprachen, Gesellschaftswissenschaften, Sport und Musik, aber auch handwerkliche Fähigkeiten. Die Schülerinnen und Schüler sollen lernen, Informationen kritisch zu hinterfragen, kreativ zu nutzen und in einem breiteren sozialen, ökologischen und ethischen Kontext zu denken. Der klassische Bildungskanon, ergänzt durch die Vermittlung der so genannten 21st Century Skills, bleibt somit unverzichtbar für die Bildung resilienter, kompetenter und zukunftsfähiger junger Menschen.
Zudem haben wir in unseren Schulen auf dem Campus am Ufer der Schlei die Erfahrung gemacht, dass der Einsatz von Mentoren und der Glaube an die eigene Entwicklungsfähigkeit zentrale Elemente sind, um die Lernmotivation und die Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung für den eigenen Lernprozess zu stärken. Dazu gehört die Überzeugung, dass grundlegende akademische Fähigkeiten und Intelligenz durch Anstrengung, gute Lernstrategien und konstruktive Rückmeldungen entwickelt und verbessert werden können. Die Schülerinnen und Schüler lernen, Herausforderungen als Chancen zum Lernen zu verstehen und wachsen daran, statt sie als unüberwindbare Hindernisse abzulehnen und zu meiden. Sie sind bereit, Fehler zu machen und aus ihnen zu lernen, und sehen Anstrengung als den Weg zu ihrer persönlichen Meisterschaft.
Frage 4: Nach einer jüngsten Umfrage der Körber-Stiftung glauben Dreiviertel der Eltern, dass Noten Leistungen nicht angemessen abbilden können; knapp die Hälfte plädiert dafür, das bestehende Notensystem abzuschaffen. Aber wie kann man Motivation, Begeisterung und Selbstwirksamkeit bei Kindern erreichen: Sind feste Lehrpläne und Schulnoten noch zeitgemäß?
Diese Umfrageergebnisse spiegeln ein wachsendes Bewusstsein in der Gesellschaft wider, dass traditionelle Bewertungsmethoden wie Noten die Leistungen und Fähigkeiten von Schülerinnen und Schülern nicht angemessen abbilden können. Diese Erkenntnis unterstreicht die Dringlichkeit, unsere Ansätze in der Bildung zu überdenken, insbesondere im Hinblick auf Motivation, Begeisterung und das Gefühl der Selbstwirksamkeit bei Kindern. In Louisenlund haben wir uns dieser Herausforderung gestellt, indem wir ein Bildungsumfeld geschaffen haben, das über feste Lehrpläne und Schulnoten hinausgeht.
Unser Ansatz basiert auf der Überzeugung, dass Bildung individuell, kompetenzorientiert und auf die Entwicklung der gesamten Persönlichkeit ausgerichtet sein sollte. Anstatt Schülerinnen und Schüler nur durch ein starres Notensystem zu bewerten, berücksichtigen wir auch individuelle Lernfortschritte, die Entwicklung von Kompetenzen und das Erreichen persönlicher Ziele. Dieser Ansatz fördert nicht nur die intrinsische Motivation und Begeisterung für das Lernen, sondern stärkt auch das Selbstbewusstsein und das Gefühl der Eigenwirksamkeit.
Studien zeigen, dass eine Bewertung, die auf persönlichem Fortschritt und Kompetenzerwerb basiert, positive Auswirkungen auf die Lernmotivation und das Engagement der Schüler hat. Ebenso belegen Forschungsergebnisse, dass ein Umfeld, das Autonomie, Kompetenz und soziale Eingebundenheit fördert, entscheidend für die Entwicklung eines Growth Mindsets ist. Ein solches Mindset ist essentiell für lebenslanges Lernen und den Erfolg in einer sich schnell verändernden Welt.
In Louisenlund setzen wir diese Erkenntnisse um, indem wir auf der Grundlage der Lehrpläne und Fachanforderungen des Landes Schleswig-Holstein auch ein ergänzendes außerschulisches Lernen und ein vielfältiges Internatsleben in einer internationalen Gemeinschaft anbieten können. Unsere Schülerinnen und Schüler werden ermutigt, in allen Dimensionen des Lernens zu experimentieren und zu wachsen. Das gilt natürlich auch für die Lehrerinnen und Lehrer unserer Kollegien in den unterschiedlichen Schulformen. Diese pädagogische Herangehensweise ermöglicht es, dass Schülerinnen und Schüler ihre eigenen Lernpfade erkunden und gestalten können, was die Grundlage für eine tiefe, bedeutungsvolle Bildung schafft.
Frage 5: Es gibt in der Klima- und Mobilitätswende Zukunftsmissionen. Deutschland braucht aber auch eine „Zukunftsmission Bildung für das 21. Jahrhundert“, sagt der Stifterverband. Diese große Herausforderung wäre vom Staat alleine nicht zu lösen, deshalb wolle man mit Unternehmen und Wirtschaft den Aufbruch gestalten. Sie haben den Bildungsaufbruch in Louisenlund schon frühzeitig eingeläutet. Als best practice-Beispiel: Wie haben Sie ihn umgesetzt und in welchen Zeiträumen müssen wir denken?
Unsere Erfahrungen können schon heute beispielhaft für die Gestaltung des Bildungsaufbruchs sein. Als Privatschule sind wir natürlich teilweise privilegiert. Aber aus dieser Situation heraus entsteht auch eine ernstzunehmende Verantwortung, Dinge neu zu denken und Lösungen zu erarbeiten. Schneller und flexibler als staatliche Schulen das vielleicht können. Wir machen diese Erfahrungen durch Hospitationsprogramme für andere Schulen und die Fortbildung von Lehrenden transparent und zugänglich. Wir sind ja alle Teil des Bildungssystems in Deutschland.
In Louisenlund haben wir den Bildungsaufbruch durch die Schaffung eines personenzentrierten Lernumfelds eingeleitet. Pädagogik, Architektur und die Organisation unserer Schulen ergänzen sich. Sie sind vom Lernen her gedacht und verstehen Vielfalt als Grundlage. Diese Umgebung ermöglicht es, das Lernen kompetenzorientiert und individuell auf die Bedürfnisse und die Einzigartigkeit jedes Schülers abzustimmen. Dieser ganzheitliche Ansatz wird durch Mentoren unterstützt, die den Schülern helfen, in allen Dimensionen des Lernens zu wachsen.
Die Umsetzung dieses Bildungsaufbruchs erforderte eine schrittweise Transformation, die sich über mehrere Jahre erstreckte. Zunächst begannen wir mit der Weiterentwicklung der Louisenlunder Pädagogik, danach mit dem Bau maßgeschneiderter Schulgebäude, die offene Lernflächen statt traditioneller Klassenräume bieten. Parallel dazu entwickelte sich unser Kollegium gezielt weiter und bereitete sich auf die Möglichkeiten in den neuen Gebäuden vor. Die Einführung einer flexiblen Organisation und das Aufbrechen starrer Stundenpläne stellte uns immer wieder vor Herausforderungen. Die Implementierung eines neuen Bildungskonzepts ist ein fortlaufender Prozess, der ständige Bewertung, Anpassung und Verbesserung erfordert.
Ein Schlüssel zum Erfolg in Louisenlund war die enge Zusammenarbeit mit Partnern aus Wirtschaft, Wissenschaft und der gesamten Schulfamilie. Diese Allianzen ermöglichten es uns, unser Bildungsangebot kontinuierlich zu verbessern, indem wir externe Expertise und Ressourcen integrierten. Solche Partnerschaften sind essenziell für Schulträger, um den Herausforderungen einer sich schnell wandelnden Welt zu begegnen und sicherzustellen, dass unsere Schülerinnen und Schüler auf die Zukunft vorbereitet sind.
Louisenlund zeigt, dass eine tiefgreifende Transformation des Bildungssystems möglich ist, wenn wir mutig genug sind, bestehende Paradigmen zu hinterfragen und neue Wege zu beschreiten. Die "Zukunftsmission Bildung für das 21. Jahrhundert" erfordert gemeinsame Anstrengungen aller Beteiligten. Dazu gehört auch, dass sich jeder Einzelne aus seiner Komfortzone bewegt. So könnte es gelingen, ein Bildungssystem zu schaffen, das nicht nur relevantes Wissen vermittelt, sondern auch die persönliche Entwicklung fördert und jeden Einzelnen darauf vorbereitet, die Herausforderungen und Möglichkeiten unserer Zeit aktiv zu gestalten. Neben unserer Gesellschaft würde sich die deutsche Industrie von diesem Wandel profitieren.
Autorin: GROSZ-HERZIG. KOMMUNIKATION BÜRO NORD; zusammengestellt von Gert Holle - 19.02.2024