Der Denkanstoß: Bernhard kam nicht mehr

Foto: canva.com
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Der Denkanstoß: Bernhard kam nicht mehr - von und mit Gert Holle

 

Es gibt Gedanken, die lassen Dich nicht mehr los. So wie der, den Herbert Grönemeyer in seinem Liedtext „Stück vom Himmel“ niederschrieb und der mir gerade im November, dem Monat des Totengedenkens, fast täglich in den Sinn kommt. „Es sind Geschichten, sie einen diese Welt. Nöte, Legenden, Schicksale und Tod. Glückliche Enden. Lust und Trost. Ein Stück vom Himmel. Der Platz von Gott.“ Oft sind es aber auch gar nicht die großen Geschichten dieser Welt, sondern die eher unscheinbaren Begebenheiten, die sich in Deine Seele brennen. Von einer solchen Begebenheit möchte ich Ihnen erzählen. Wir reisen zurück in das Jahr 2012.

 

Drei Wochen war die Ausstellung „Mutter Teresa und die Armut des Westens“ in Bad Salzhausen in der Wetterau zu besichtigen. Ich hatte die Gelegenheit, an den meisten Öffnungstagen anwesend zu sein und mit dem einen oder anderen Besucher ins Gespräch zu kommen. Die zum großen Teil sehr erschütternden Bilder gaben fast unwillkürlich Gesprächsstoff. Krankheit und Hunger in Indien in den Jahren 1927 bis 1997. Verzweifelte Menschen in Obdachloseneinrichtungen in New York, London oder Berlin. Bilder von jungen Menschen mit der Heroinspritze im Arm. Hungrige, die in Abfallbehältern ein Stückchen Brot suchen. „Im Westen gibt es eine Einsamkeit, die ich die Lepra des Westens nenne. Sie ist in vielerlei Hinsicht schlimmer als unsere Armut in Kalkutta!“, sagte Mutter Teresa einmal. Wie recht sie doch damit hat, wurde mir am dritten Ausstellungstag vor Augen geführt. Es war kurz vor sechs Uhr abends, ich wollte schon schließen, als ich eine dünne, hagere Gestalt durch die Glasfront vor der Kirchentür sah. Der alte Mann drehte fast schon wieder um, als ich geradezu die Tür aufriss: „Kommen sie doch rein!“ – Er rang um Worte, stotterte, dass seine Schulter lädiert sei und er Mühe an solchen Eingängen habe. Unwillkürlich musterte ich ihn von oben bis unten. Hatte er getrunken? Was ist das für eine seltsame Gestalt? Ein langer grauer Pferdeschwanz, unrasiertes Gesicht. „Ja, kommen sie doch rein!“ – Er ging in die Kirche, ohne ein weiteres Wort zu sprechen, steuerte auf die Bilder zu. Ich beachtete ihn nicht weiter, hoffte nur, dass er bald fertig werden möge, damit ich nach Hause konnte. Nach gefühlten fünf Minuten stand er plötzlich wieder vor mir. Er ist schon vor mehr als 50 Jahren aus der Kirche ausgetreten, setzte er ein. Dass er aus dem Osten sei, nach der Lehre über den zweiten Bildungsweg in die Marketing-Branche gekommen wäre, dass er dann doch noch Medizin studiert hätte, wie er das eigentlich schon in seiner Jugend vorgehabt hatte. Doch wegen seiner Sprachstörung habe er nie praktiziert. Und immer wieder: Welch schlechte Erfahrungen er mit einem Kirchenvorsteher in seiner Jugendzeit gemacht hätte. Ja, einmal sei er sogar verdroschen worden, von seinem Lehrmeister, dem frommen Kirchenvorsteher. Er schilderte die Krankenhausodyssee, die er mit seiner Schulter hinter sich hatte und dass man ihm hier in Bad Salzhausen endlich helfen konnte. Eigentlich sei er heute nur rein zufällig hier. Der Bekannte, mit dem er verabredet sei, habe ihn versetzt. Ich hörte gebannt zu. Die Minuten vergingen. Und dann fing er an, davon zu erzählen, dass er seit drei Wochen Schwierigkeiten habe, Urin und Stuhlgang zu kontrollieren. Wie schrecklich es war, als er in seiner Stadt unterwegs war und er dringend „musste“. Er fand keinen Laden, kein Lokal, sodass er in einen Hinterhof ging. „Du Dreckschwein!“ rief eine Frau aus dem Fenster im zweiten Stock. „Du alte Drecksau!“ Ich schämte mich für die Frau, die ich nicht kannte. „Morgen muss ich zu einer Untersuchung ins Krankenhaus! Ich habe einen Riesenbammel!“ – Ich dachte sofort an Prostata-Krebs. Und als ich in seinem Augenwinkel eine Träne sah, legte ich ihm meine Hand auf die Schulter. Er flüsterte: „Ich bin ja nicht mehr in der Kirche! Ob sie nicht …?“ - „Ja, ich werde für Sie beten!“. „Ich bin Bernhard“, sagte er. „Und wie heißen Sie?“. „Mein Name ist Gert!“ Und dann fügte ich hinzu: „Wie ist es, Bernhard: Wenn Sie die Untersuchung gut überstanden haben, schauen Sie hier wieder rein?“ – „Ja, das werde ich tun, ganz sicher!“ – Zweieinhalb Wochen habe ich jeden Nachmittag zum Eingang gestarrt. Bernhard kam nicht mehr. – „Nöte. Legenden. Schicksal und Tod. Ein Stück vom Himmel. Der Platz von Gott…“

 

 

„Die Tränen rannen herab, und ich ließ sie ungehindert fließen, wie sie wollten, und machte aus ihnen ein Ruhekissen für mein Herz. Auf ihnen ruhte es.“ Mit diesen Worten des Kirchenvaters Augustinus wünsche ich Ihnen ein gesegnetes Wochenende.


Autor: Gert Holle - 23.11.2023