Der Denkanstoß: Warten auf Weihnachten - von und mit Gert Holle
„Das Dumme an Weihnachten ist die Zeit dazwischen, zwischen irgendwann und Weihnachten“, sagt der kleine Jeremy James in einer kurzen Geschichte des britischen Autors David Henry Wilson – nicht nur für Kinder erzählt. „Wenn nichts dazwischen wäre, bräuchte ich nicht mehr auf die Geschenke zu warten!“ Ein kleiner aufgeweckter Junge spricht vielen Menschen aus dem Herzen. Alles muss schnellstens eintreffen: das Gehalt, der nächste Urlaub, das neue Smartphone. Und das Ergebnis: Hektik und Stress. Alle Jahre wieder. - Gut dass es dieses „Dazwischen“ gibt, in dem wir verweilen dürfen. Die Adventszeit erinnert uns daran: „Es soll wieder etwas ankommen“. Bei Ihnen, bei mir. Und genau das braucht seine Zeit. Ich will darauf vertrauen, dass es mir gut tun wird. Dass lässt mich dann innehalten, tief durchatmen. Wünsche werden eben nicht vorschnell erfüllt. Es dauert eben noch bis Weihnachten „bis die Zeit erfüllt ist“, wie die Bibel sagt. Maria und Josef haben es auch lernen müssen. Das gibt mir eine Gelassenheit, die mich verändert: Vertrauen statt Ungeduld, Verständnis statt Streit. Ich freue mich im Augenblick am Augenblick und entdecke das Positive an so manchen Wartebereichen.
Kürzlich hatte ich einen unfreiwilligen längeren Aufenthalt am Bahnhof in Gelnhausen, wo ich in einem kleinen Imbiss auf die Ankunft meines Zuges wartete. Ich war aus meinem Alltag herausgerissen, saß bei einem Kaffee auf einem Stuhl und tauchte für ein paar Minuten ins Leben anderer Menschen ein und fühlte mich ihnen verbunden. Beim Blick auf die Menschen um mich herum malte ich mir aus, woher sie wohl kommen mögen, wohin ihre Fahrt wohl hingehen würde. Und dann stellte ich mir vor, dass es den anderen ähnlich wie mir gehen mag. Dass einer auf mich schaut und sich fragt, woher ich komme und wohin ich fahren werde. Ein junger Mann stellte sich neben mich. An seiner Hand zerrte ein kleines Mädchen. „Papa, hast du mich noch lieb?“. Ich fühlte mich an meine Kindheit erinnert. Kurz vor den Weihnachtsferien bekamen wir einmal im Religionsunterricht eine Geschichte aus einem Buch vorgelesen: „Hallo, Mister Gott, hier spricht Anna.“ Vielleicht kennen Sie es? Die kleine verwahrloste Anna wird von einem jungen Mann gefunden. Er lädt sie ein, bei ihm im Haus zu leben. Sie sprechen viel miteinander. Und einmal fragt sie: „Fynn, du hast mich doch mehr lieb als irgendwer sonst?“ – „Ja“, antwortet Fynn. Anna spricht weiter: „Aber mit Mister Gott ist das ganz anders. Siehst du, Fynn. Menschen lieben von außen rein, sie kennen uns von außen, sie können uns von außen streicheln, sie können uns von außen küssen, aber Gott liebt uns innen drin, er kennt dich von innen und kann dich von innen küssen, darum ist es mit Mister Gott ganz anders.“ – „Ja, mein Kleines, ich habe Dich ganz doll lieb“, hörte ich den jungen Vater neben mir zu seiner Tochter sagen. Er beugte sich runter, gab ihr einen Kuss. Und schon gingen sie weiter. Ich freute mich im Augenblick am Augenblick.
Leider scheint uns in der Hektik des Alltags die Zeit dafür zu fehlen, solche Begebenheiten, in denen sich das wahre Menschsein spiegelt, wahrzunehmen und ihnen unsere ungeteilte Aufmerksamkeit zu schenken. Nicht von ungefähr kommt es, dass in erster Linie Befehle gegeben, Prinzipien verkündet, Gesetze beschlossen, Statuten vereinbart, Regierungserklärungen unterzeichnet werden. Es ist deshalb auch kaum erstaunlich, dass unseren Worten vielfach gerade deshalb die Seele fehlt. Dass deshalb Worte oft nicht viel bedeuten und schon gar nicht bewirken, was sie beschreiben. Was wir als Menschen brauchen, ist eine Sprache, die über alle Befehle, Prinzipien, Gesetze, Statuten und Regierungserklärungen hinaus vom Herzen kommt und zum Herzen geht. Vielleicht bieten Wartebereiche in der Adventszeit die Möglichkeit, das gesprochene Wort als Instrument gelebter Zärtlichkeit zu spielen und die daraus entstehende Gemeinschaft als Teil geglückten Lebens zu erleben. Freuen wir uns dann am Augenblick im Augenblick und zünden die erste Kerze auf unserem Adventskranz an. Dann ist für mich und vielleicht auch für Sie das Schöne an Weihnachten: „Die Zeit dazwischen.“
Autor: Gert Holle - 30.11.2023