16.09.2025
Jeder achte Erwachsene in Deutschland kann nicht richtig lesen und schreiben - doch die Scham, das zuzugeben, ist oft riesig. Um das Tabu zu brechen, lud das momentum mit Partnern zum Aktionstag ein.
Von Anja Kernig/BIP Saar
(Neunkirchen/ak/bips) – Ein rotes U. Oder darf es lieber ein grünes N sein? Völlig egal, sie schmecken alle gleich gut, die Fruchtgummi-Buchstaben, die Gastgeberin Gemeindereferentin Katja Groß jedem Besucher zur Begrüßung am Eingang des Momentums in Neunkirchen anbot. Dass sie das ziemlich oft tun konnte, ließ die Veranstalter des Aktionstags insgeheim aufatmen. Bereits im letzten Jahr hatten die Katholische Erwachsenenbildung Saarbrücken (KEB) mit ihrem Grundbildungszentrum Neunkirchen und die Stadtbibliothek Neunkirchen anlässlich des Weltalphabetisierungstages gemeinsam mit dem Momentum zu Information und Austausch eingeladen. Ohne Resonanz. Weshalb man diesmal auf Mittwoch sprang: ein regulärer Öffnungstag, an dem sich praktischerweise auch die Demenzgruppe im Momentum trifft. Zudem holten sich die Veranstalter weitere „Verbündete“ ins Boot: Pastoralreferent Christoph Morgen vom Arbeitsfeld Inklusion im Bistum Trier sowie das Mehrgenerationenhaus Neunkirchen. Dieses bietet seit 2016 kostenlose Hilfe beim Ausfüllen von Formularen und Anträgen an. „Es geht da zum Beispiel um das Beantragen von Kindergeld und die Aufstockung der Rente“, erklärte Leiterin Janine Wack. „Oder jemand kommt mit Post von der Krankenkasse zu uns und sagt: Ich verstehe nicht, was die von mir wollen.“ Die „Formular-Hilfe“ verstehe sich zwar als Hilfe zur Selbsthilfe, stößt damit allerdings schnell an Grenzen: „Beim Namen funktioniert es noch. Aber vielen fällt es schon schwer, ihre Straße aufzuschreiben“. Womit man bereits mittendrin im Thema ist: Herausforderungen, denen Menschen mit Lese- und Schreibschwierigkeiten tagtäglich begegnen.
"Ich habe meine Brille vergessen"
Als Analphabet in die Bücherei gehen? Das klingt absurd. Dabei funktionieren viele Angebote der Stadtbibliothek ohne Lesen, etwa Hörbücher, Filme, Bilderbücher und Comics. Auch für den Einstieg in die Welt der Buchstaben steht das Passende, niedrigschwellig, bereit - war an einem der Info-Stände zu erfahren. Den Auftakt des Aktionstags bildete der „Buchstabensalat“, ein interaktiver Impulsgeber. Hier galt es, aus einem wilden Haufen Buchstaben neue Wörter zu legen und dabei spielerisch ins Gespräch über Sprache und Bildung zu kommen. Natürlich gab es Kaffee – zu Russisch Brot in Buchstabenform; um die Mittagszeit servierten die ehrenamtlichen Helferinnen eine Buchstabensuppe. „Bei uns schlägt das Thema regelmäßig auf“, betonte Katja Groß. „Da heißt es dann: Können sie mir das mal vorlesen, ich habe meine Brille nicht dabei.“ Die Scham ist riesengroß, was dazu führt, dass Betroffene oft sehr lange zögern, ehe sie sich Hilfe suchen.
Auch Hochintelligente können durchs Raster fallen
Das weiß auch Klaus Becker von der KEB. Die bietet im Rahmen der Grundbildung einmal wöchentlich Alphabetisierungskurse in Neunkirchen an. „Es handelt sich um einen offenen Treff in den Räumen der Familienbildungsstätte in der Wellesweiler Straße.“ Also etwa abseits vom Stadtzentrum, wo man nicht gesehen und erkannt wird. Trotzdem stagniert die Nachfrage seit Corona. Die Hürden sind vielfältiger Natur: „Alleinerziehende finden niemanden, der so lange auf die Kinder aufpasst.“ Oder der Ehepartner verbietet es. Oder man spricht eine andere Sprache. Und, natürlich, Scham. Immer wieder Scham, weil man meint, der einzige Mensch mit diesem Problem weit und breit zu sein. Was für ein fataler Irrtum: Allein in Deutschland können 6,2 Millionen - jeder achte Erwachsene - nicht richtig lesen und schreiben.
„Elementar ist, Freude am Lesen und Schreiben lernen zu haben und ernst genommen zu werden. Dann kommen die Leute auch wieder“, weiß Peter Kurz, Referent der Erwachsenenbildung. Er hatte es schon mit jungen Erwachsenen zu tun, die sich durch die Schulzeit gemogelt haben und nun ihr Defizit für den Beruf, für den Führerschein oder die Freundin beheben wollen. Genauso gibt es aber auch Senioren, die ihre Schwäche so lange verbergen konnten, bis der Partner verstorben ist. Betroffen können im Übrigen auch hochintelligente Menschen sein, die irgendwie, irgendwann durchs Raster gefallen sind. Jeder Fall liegt etwas anders, was sie eint, ist der Leidensdruck und das oft kräftezehrende strategische Vermeiden von Situationen, in denen man sich offenbaren müsste. Bis sich Erfolge einstellen, braucht es Geduld bei allen Beteiligten. „Es ist kein Sprint, sondern eher ein langer Weg, auf den sich die Kursteilnehmer begeben.“ Umso wichtiger sei es, dass sie jemanden an ihrer Seite hätten, der sie immer wieder positiv bestärkt. Als kontraproduktiv erweisen sich negative Erinnerungen an die Schulzeit. Doch anders als die Lehrer früher kann Kurz auf jeden Einzelnen individuell eingehen. „Es muss sich niemand an- und abmelden oder erklären, warum er hier ist.“ Jeder bestimmt sein Tempo und die Inhalte selbst, wie der Referent versichert.
Seit 1966 wird der Weltalphabetisierungstag jedes Jahr begangen. Trotzdem bleibt das Anliegen aktuell. Weltweit haben rund 860 Millionen Erwachsene Probleme mit dem Lesen und Schreiben, zwei Drittel davon Frauen. Um Betroffenen zu helfen, bedarf es eines offeneren gesellschaftlichen Umgangs damit. „Das Thema muss viel stärker in die Öffentlichkeit“, betont Katja Groß. „Wir müssen es enttabuisieren.“