10.10.2025
Studientag des Bonifatiuswerkes und der Theologischen Fakultät Paderborn erarbeitet praktische Ansätze, um mit Ausgetretenen im Dialog zu bleiben
(Paderborn/bfw) - Was sind die Gründe dafür, dass Menschen sich von der Kirche abwenden? Wie kann die katholische Kirche Menschen begegnen, die offiziell die Kirche verlassen haben oder um den Mehrwert einer Kirchenmitgliedschaft ringen? Gibt es das eine Patentrezept? Um diese Fragen ging es an diesem Donnerstag beim bundesweiten Studientag „Drinnen, draußen, (n)irgendwo?“, zu dem das Bonifatiuswerk und die Theologische Fakultät Paderborn eingeladen hatten. An der Resonanz war zu erkennen, wie sehr das Thema ehren- und hauptamtlich Mitarbeitende in der pastoralen Arbeit umtreibt. Das Credo: Kirche muss auf Menschen zugehen, die mit der Kirche fremdeln.
Das Bonifatiuswerk der deutschen Katholiken hat die Auseinandersetzung mit dem Phänomen Kirchenaustritt seit langem auf der Agenda. Die Ursachen sind vielfältig. Sie reichen vom Missbrauchsskandal über persönliche Erfahrungen im Gemeindeleben oder kirchensteuerlichen Gründen bis hin zum Bekenntnis: Ich glaube nicht an Gott. So eindeutig die Statistiken sind, so sehr setzt das Hilfswerk für den Glauben auf Dialog, Begegnung, ermutigende Ideen und den Blick nach vorne. Monsignore Georg Austen, Generalsekretär des Bonifatiuswerkes: „Bei allem Respekt vor der Entscheidung jedes Einzelnen, aber auch vor dem schmerzhaften Prozess für unsere Kirche wollen wir nicht nur die Zahlen zur Kenntnis nehmen, sondern auch sehen, was bei den Menschen dahintersteckt. Wie können wir lernen, im Dialog zu bleiben und Menschen, die der Kirche den Rücken kehren, nicht abzuschreiben?“ Genau diese Fragen beleuchteten die Teilnehmenden aus theologischer, soziologischer und pastoraler Sicht.
Prof. Dr. Aaron Langenfeld, Rektor der Theologischen Fakultät Paderborn, betonte: „Kirche muss als verlässlicher Partner präsent sein. Und es muss ihr gelingen, Vertrauen zu stiften. Wir müssen uns fragen: Wie begegnen wir den Menschen? Nicht den ,Menschen als anonyme Masse‘, sondern wir müssen uns fragen: Was brauchen Menschen ganz konkret in bestimmten Kontexten von uns?
Prof. Dr. Detlef Pollack von der Universität Münster zeichnete in seinem Impulsreferat historische Entwicklungen und gesellschaftliche Faktoren von Kirchenaustritten in Deutschland nach. Nach seinen Worten nennen Ausgetretene als Hauptgründe Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Kirche, Missbrauchs- und andere Skandale und den hierarchischen Aufbau in der Kirche oder die Entscheidung, ohne Glauben an Gott leben zu wollen. Der Soziologe machte deutlich, dass Menschen die Kirche vor allem in jungen Jahren verlassen – und zwar dann, wenn sie nicht mehr mit ihrer Herkunftsfamilie zusammenleben. „Das weist auf die hohe Bedeutung der Familie im Hinblick auf religiöse Erziehung hin“, so Pollack.
Allerdings werde Kirchenbindung immer weniger von einer Generation auf die nächste weitergegeben. Der Soziologe nennt das den „stillen Kirchenaustritt“. Einflussfaktoren seien unterschiedliche Konfessionen der Eltern, Scheidung und das Bemühen der Eltern um Mündigkeit ihrer Kinder. Pollack warf aber auch einen Blick darauf, was Menschen bewegt, wenn sie wieder oder neu zur Kirche finden. Als Beispiel nannte er die Beziehung zu Freunden, die aktiv in der Kirche sind und von ihren positiven Erfahrungen berichten, oder die Begegnung mit einem sympathischen, freundlichen Pfarrer. Die Annäherung geschehe also weniger über Glaubensfragen, „sondern ganz stark über soziale Kontakte“, so Pollack. Als evangelischer Christ riet er den Katholiken, „gnädiger mit ihrer Kirche zu sein“.
Der Paderborner Kirchenrechtler Prof. Dr. Rüdiger Althaus von der Theologischen Fakultät Paderborn beleuchtete die theologischen und juristischen Dimensionen des Kirchenaustritts, die direkte Konsequenzen für die pastorale Wirklichkeit haben. Er machte deutlich, dass ein Austritt allein die irdische Dimension der Kirchenmitgliedschaft betreffe, nicht aber die durch Gott geschenkte Heilsgemeinschaft – denn wer getauft ist, bleibt getauft. „Wie aber hat die katholische Kirche den Kirchenausritt bisher bewertet?“, fragte Althaus. Nach seinen Worten haben die deutschen Bischöfe noch 2011 den gegenüber dem Staat erklärten Austritt als klare Abkehr von der Kirche und „schwere Verfehlung gegenüber der kirchlichen Gemeinschaft“ eingeordnet. Eine der Rechtsfolgen: Ausgetretene dürfen keine Sakramente empfangen. Althaus spitze es zu: „Wer draußen ist, hat nichts mehr zu melden.“
Der Kirchenrechtler gab jedoch zu bedenken, dass sich daraus nicht zwingend „die innere Glaubensüberzeugung“ identifizieren lasse. Was bedeutet das für die pastorale Arbeit? Althaus plädierte dafür, „eine Grauzone einzurichten für solche, die ausgetreten sind, aber noch zur Glaubensgemeinschaft gehören und den Glauben praktizieren wollen“. Das Wesen der Kirche müsse tiefer bekannt gemacht und glaubwürdig vermittelt werden, so Althaus.
Prof. Dr. Stephan Wahle, Liturgiewissenschaftler aus Paderborn, warf die Frage auf, welche Rolle die Liturgie im Prozess der Bindung oder Entfremdung von der Kirche spielt – und wie neue liturgische Formen Räume öffnen können, in denen Menschen sich spirituell beheimatet und ästhetisch angesprochen fühlen. Er identifizierte die „Top 4“ der Anlässe für Gottesdienstbesuche: familiäre Anlässe wie Hochzeiten, Taufen oder Beerdigungen, hohe Feiertage, Gottesdienste mit Musik sowie Familiengottesdienste.
Problematisch sei immer eine gottesdienstliche Gestalt, in der sich ein Großteil der Mitfeiernden nicht zugehörig oder nur als Gast fühlten. Dem Gottesdienst kommt Wahle zufolge eine große Bedeutung zu – auch für Ausgetretene. Denn es habe sich keine neue religiöse Praxis außerhalb der Glaubensgemeinschaften gebildet. In der anschließenden Diskussion, moderiert von Eva Dreier (Referentin beim Bonifatiuswerk) wurde deutlich, wie wichtig eine gelebte Willkommenskultur ist und wie wichtig es ist, Menschen positiv begleiten, wenn sie sich entschließen, wieder aufgenommen zu werden.
Am Nachmittag boten fünf Workshops Gelegenheit, konkrete Themenfelder zu vertiefen. Dabei ging es um die Auswirkungen des Kirchenrechts in der pastoralen Beziehung zu Ausgetretenen (Dr. Nils Petrat). Thema war auch, welche Rolle die Sprache, derer sich Kirche bedient, bei Entfremdungsprozessen spielt (Prof. Dr. Aaron Langenfeld). Ebenso waren gottesdienstliche Feiern zwischen Zuspruch und Distanz (Dr. Nicole Stockhoff) und die Haltungen im Umgang mit Ausgetretenen (Dorothee Michels-Uroic) Thema. Dorothee Michels-Uroic (Bremen) verwies dabei auf die Besonderheit in der Hansestadt, wo man seinen Austritt nicht gegenüber der Stadt, sondern gegenüber der Kirche erklärt. Monsignore Austen und Julian Heese (Bonifatiuswerk) leiteten den Workshop „Lebenswege begleiten, Glaubensräume öffnen – Erfahrungen aus der missionarisch-diakonischen Pastoral“.
Austen in seinem Fazit: „Mit dem Blick auf eine ernüchternde Realität ist es wichtig, dass wir uns aus theologischen Denkfabriken, festgefahrenen Strukturen und zementierten Kirchtürmen hin zu den Lebenswelten der Menschen bewegen.“ Der Diskurs mit Andersdenkenden und -glaubenden sei wichtig. Es gehe darum, deutlich zu machen, „was das Stärkende, Tragende und Verbindende des christlichen Glaubens ist“. In der praktischen Umsetzung gelte es, diese Fragen zu beantworten: „Was braucht es an Räumen, Orten und Personen, die in der Seelsorge erfahrbar und verlässlich sind? Wie sind wir auskunftsfähig über die Inhalte des christlichen Glaubens? Wie trägt die Kirchen selbstbewusst zu einem Mehrwert als Weltkirche zum Wohle aller Menschen bei?“ Nicht zuletzt mit dem notwendigen Gottvertrauen und dem Auftrag: „Draußen zu zeigen, was wir drinnen glauben.“
Text Hartmut Salzmann