Professor Martin Stuflesser über das Erbe des Konzils, die Kunst des Zuhörens und warum Synodalität mehr ist als ein Organisationsmodell
16.10.2025
(Würzburg/ POW) - Vor 60 Jahren ist das Zweite Vatikanische Konzil zu Ende gegangen, vor 50 Jahren die Würzburger Synode. Warum beide Ereignisse nach wie vor aktuell sind und welche Anregungen die katholische Kirche daraus ziehen kann, erläutert Professor Dr. Martin Stuflesser, Inhaber des Würzburger Lehrstuhls für Liturgiewissenschaft, im folgenden Interview.
POW: Herr Professor Stuflesser, Sie haben bei der Herbstvollversammlung des Diözesanrats aus Anlass von 50 Jahren Würzburger Synode und 60 Jahren Zweites Vatikanisches Konzil einen Blick zurück nach vorn geworfen. Was war das Anliegen Ihres Vortrags?
Professor Dr. Martin Stuflesser: Ich vermute, dass der Diözesanrat mich auch deshalb eingeladen hat, weil ich aktuell an einem Forschungsprojekt mit dem Titel „Vatikan II – Event and Mandat“ mitwirke. Es geht darum, die Texte des Zweiten Vatikanischen Konzils noch einmal aus internationaler Perspektive neu zu kommentieren und ihre Hintergründe zu beleuchten. Dabei macht der Titel „Event und Mandat“, also Ereignis und Erbe/Auftrag, deutlich, worum es mir auch in meinem Vortrag ging, nämlich zu zeigen: Was bleibt von diesen Impulsen sowohl des Zweiten Vatikanischen Konzils als auch dann der Würzburger Synode? Die Zeichen der Zeit, von denen das Konzil spricht, sind ja heute unbestreitbar andere als in den 1960er Jahren. Und dennoch, denke ich, gibt es in diesen Texten viel zu finden, was auch für unsere heutige Zeit spannende Impulse für das Christsein bietet.
POW: Welche Impulse meinen Sie?
Stuflesser: Zunächst bleibt natürlich für einen Christenmenschen das berühmte: „in der Welt, und nicht von der Welt“ (Joh 17,18). Hilfreich finde ich hier den Begriff der „Haltung“. Der findet sich etwa in dem Dokument „Nostra Aetate“: In diesem geht es ja nicht einfach nur um das „Verhältnis“ zu den nichtchristlichen Religionen, wie die deutsche Übersetzung aus meiner Sicht eigentlich falsch übersetzt, sondern, wenn man das lateinische „habitudo“ ernst nimmt, um eine ganz neue Haltung. Und diese Haltung ist zunächst einmal positiv: Sie ist positiv zu anderen Religionen, sie ist positiv auch zur Welt. Denken Sie an die Pastoralkonstitution „Gaudium et Spes“, aber auch andere Dokumente des Konzils. Die Haltung ist positiv, sie ist wertschätzend. Was nicht heißt, dass sie deshalb unkritisch sein muss. Eine positiv wertschätzende Haltung schließt mit ein, dass eben da, wo besagte Zeichen der Zeit es erforderlich erscheinen lassen, die Kirche den Auftrag hat, prophetisch ihre Stimme zu erheben. Wie das etwa Papst Leo unlängst getan hat angesichts der Deportation von Einwanderern durch die Trump-Administration in den USA. Klar ist: Kirche hat als Zeichen und Werkzeug einen Auftrag. Und der ist zunächst einmal, dienlich zu sein. Ich gestehe ganz offen, dass ich von daher den früheren Claim, der im Bistum Würzburg verwendet wurde, „Kirche für die Menschen“, durchaus sehr passend fand.
POW: Sie haben betont, dass viel von dem, was die Kirche aktuell als Antwort aus dem Umfeld zurückbekomme, nur eine Spiegelung der ursprünglichen Botschaft sei. Wie ist das zu verstehen?
Stuflesser: Ich habe mich dabei auf den Film „Contact“ bezogen, ein Science-Fiction-Film von 1997, in dem unter anderem Jodie Foster mitspielt, den ich einfach erhellend fand. Er liefert uns ein Modell, wie die sehr komplizierten Kommunikations- und Transformationsprozesse vielleicht besser verstanden werden können. In Kurzfassung geht es in dem Film darum, dass in einer nicht zu fernen Zukunft die Menschheit zum ersten Mal ein Signal von Außerirdischen erhält. Es dauert einige Zeit, bis es Wissenschaftlern gelingt, dieses Signal zu entschlüsseln. Als sie es entschlüsselt haben, sehen sie ein Video, einen Film, der Adolf Hitler zeigt. Natürlich sind die Wissenschaftler zunächst alle zutiefst bestürzt
und fragen sich, was das soll. Bis es einem der Wissenschaftler dämmert, dass 1936 bei der Olympiade in Berlin zum ersten Mal TV-Signale auch über Funkwellen übertragen wurden. Dieses allererste Signal einer solchen Fernsehübertragung haben diese Außerirdischen in diesem Film empfangen und schicken es als Zeichen „Eure Botschaft ist angekommen“ zurück an die Menschen.
Was ich damit sagen will: Natürlich sind Glaubensgemeinschaften häufig unglücklich, wenn sie Antwortbotschaften von der Gesellschaft erhalten, die kritisch sind, die nicht positiv sind. Aber vielleicht bemerken wir oftmals gar nicht, dass es sich dabei eigentlich um unsere eigenen ursprünglichen Botschaften handelt, die wir nur zurückgespiegelt bekommen, teilweise zeitlich versetzt, teilweise sehr unmittelbar. Ich glaube, wenn wir die Kommunikationsprozesse einmal so deuten, dass das, was da teilweise auf uns einprasselt, eigentlich Reaktionen sind auf entsprechende, teilweise auch verunglückte Kommunikation unsererseits oder Sachverhalte, die zu Recht kritikwürdig sind, dann würde das sicher die Situation insgesamt entspannen. Ich glaube, positiv ausgedrückt, wir sollten einfach genauer überlegen und darauf achten: Welche Signale senden wir als Kirche eigentlich aus?
POW: Mehr Synodalität wagen und diese als geistlichen Weg zu verstehen, lautet ihre Anregung. Wie könnte das in der kirchlichen Praxis aussehen?
Stuflesser: Ich habe mich dabei vor allem auf die Erfahrungen von Konzil und Würzburger Synode und das Abschlussdokument zur Weltsynode vom vergangenen Jahr bezogen. Wie dort Synodalität beschrieben wird, um einen Konsens zu erreichen. Also das Miteinander-eine-Frage-bearbeiten, aufeinander zu hören, die Argumente des anderen auch wirklich verstehen zu wollen, sich dafür Zeit zu lassen. Auch einmal Phasen der Stille und Beratungspausen bewusst einzuplanen.
Das alles sind nun Dinge – man sehe es mir bitte nach –, die eigentlich Standard wissenschaftlicher Kommunikation sind, wie ich sie etwa an der Uni erlebe, oder auch eigentlich Standard der mitteleuropäischen Höflichkeit. Andererseits erleben wir, dass solche Regeln guter Kommunikation und der Konsensfindung auch in Staat und Gesellschaft zunehmend abhanden zu kommen scheinen.
Das Spannende ist ja, wenn es wirklich um die Suche nach einem Konsens geht: Wie gehen wir damit um, wenn wir diesen nicht erreichen oder wenn wir ihn zumindest nicht auf Anhieb erreichen? Ich habe in meinem Vortrag verschiedene Modelle dargelegt, wie das vielleicht doch gelingen kann. Ich habe klar dafür plädiert, dass wir eigentlich mehr Theologie brauchen und nicht weniger, dass wir hier mehr theologischen Sachverstand mit einbeziehen sollten und dass gerade unsere Fakultät, so wie ich sie erlebe, wirklich jederzeit bereit ist, bei diesen unsere Kirche bedrängenden Fragen und Prozessen positiv mitzuwirken und sich einzubringen.
POW: Das heißt, Sie plädieren für ein größeres Miteinander aller Getauften und Gefirmten?
Stuflesser: Synode als geistliches Ereignis kann man nicht so verstehen, als ob da quasi jetzt ein Zusatzmodul an eine Synode angeschraubt wird, oder als ob ein Mensch, der vorher irgendwie anders war, auf einmal „geistlich“ wird. Wir alle sind durch unsere Taufe und Firmung als Christenmenschen geistlich. Wir alle sind Geistträgerinnen und -träger und leben aus diesem Geist Gottes. Hoffentlich!
POW: Sie haben angeregt, bei geistlichen Prozessen auch besondere Räume zu nutzen.
Stuflesser: Karl Lehmann hat sehr schön gesagt, dass gerade weil die Würzburger Synode hier bei uns im Dom getagt hat, diese geistliche Dimension dadurch, dass ganz nüchtern beraten wurde, aber dann auch gemeinsam Gottesdienst gefeiert wurde, Bibelarbeiten stattfanden, Meditationen, geistliche Konzerte, beides ganz stark miteinander verschränkt war. Er sagt sehr schön, dass diese nüchterne Beratung von Sachfragen und dieser Vollzug des Glaubens, also der gefeierte Glaube in der Liturgie, für ihn ganz eng zusammengehört haben und dass sie sich gegenseitig befruchtet haben. Was mir dabei im Nachhinein auch aufgefallen ist und vielleicht auch bedenkenswert wäre: In welchen Räumlichkeiten tagt man? Ich denke schon, dass ein Zweites Vatikanisches Konzil, das im Petersdom tagt, und eine Synode, die bei uns hier im Dom gleichzeitig tagt und Gottesdienst feiert – auch das war ja im Rom beim Konzil so – einen anderen Rahmen bieten, als wenn ich in einer Messehalle tage oder in einem Multifunktionsraum.
POW: Wie sieht in Ihren Augen ein gutes, zukunftsweisendes Verhältnis von Kirche und Welt aus?
Stuflesser: Zunächst einmal war es nicht meine Aufgabe, hier meine Meinung kundzutun, sondern erst einmal darauf zu gucken, wie das etwa zum Beispiel das Konzil gesehen hat oder auch die Würzburger Synode. Interessant finde ich, dass das Modell, das ich vorgestellt habe, das eines „differenzierten
Konsens“ ist. Dass man also genauer schaut: In welchen Punkten kann man zustimmen, in welchen gibt es noch einen Dissens, also verschiedene Meinungen? Es geht hierbei nicht um irgendeine vermeintlich „christliche Politik“. Aber es muss um so was gehen wie eine Politik im übertragenen Sinn, die ich eben aus christlichem Geist versuche, zu verwirklichen.
Interessant erscheinen mir hier zwei Aspekte im Kontext des Dokuments „Unsere Hoffnung“: In IV,2 wird darauf abgehoben, dass Kirche stets wach zu sein hat, und zwar gerade die Kirche in Deutschland aufgrund unserer Schuldgeschichte während der Zeit des Nationalsozialismus. Wenn wir zum Beispiel Tendenzen wahrnehmen, dass aktuell Menschenrechte missachtet werden oder politische Macht missbraucht wird. Gerade die aktuellen Vorgänge in den USA, aber auch in anderen Ländern, sollten uns auch bei uns sehr wachsam sein lassen.
Das andere ist: Wir erleben auch im Christentum im Moment in gewissen Bereichen – Stichwort USA – wieder eine Radikalisierung, die einhergeht mit Gewalt, mit Aggression, mit Verweigerung von Dialog. Da wird auch teilweise das Wort Empathie als „zu woke“ verunglimpft. Interessant ist, dass auch das Dokument „Unsere Hoffnung“ (I, 2) in seiner Option für die Armen dafür plädiert, dass wir immer sensibel bleiben müssen, dass wir empathisch bleiben müssen für die Armen, für die Ausgestoßenen, für die Geächteten. Dass es immer darum geht, wie wir ein Leben aus der Hoffnung gewinnen, und zwar gerade für die, die am Rand stehen.
POW: Als Liturgiewissenschaftler haben Sie gegenüber dem Diözesanrat erklärt: Zeige mir, wie Du Gottesdienst feierst, und ich erkenne Dein Kirchenbild dahinter. Was meinen Sie damit?
Stuflesser: Wir hatten vor ein paar Jahren hier eine große Tagung in Würzburg, wo wir uns im Rahmen der aktuellen Debatten um Kirchenreformen darüber ausgetauscht haben, wie das Verhältnis von Liturgie und Ekklesiologie ist, also von gefeiertem Glauben und den Kirchenbildern, die in dieser Feier des Glaubens, im Gottesdienst, in der Liturgie verdeutlicht werden. Um ein ganz banales Beispiel zu nehmen: Wenn Sie durch verschiedene Würzburger Innenstadtkirchen gehen, dann werden Sie sehen, dass dort sehr unterschiedliche Anordnungen der Gottesdienstgemeinde vorhanden sind, es ein sehr unterschiedliches Zueinander etwa von Altar und Ambo als sogenannten Handlungsorten gibt. Verschieden ist zudem, wie sich Gemeinde um diese Handlungsorte oder ihnen gegenüber versammelt. Das alles bestimmt aber Bilder von Kirche.
Wir haben auch vor ein paar Jahren im Auftrag der Bischofskonferenz eine größere Tagung durchgeführt mit dem Titel „Gottesdienst und Macht“, wo es um Klerikalismus in der Liturgie ging. Wenn man solchen Klerikalismus in der Liturgie vermeiden will, hat das natürlich Auswirkungen auf den Raum und auch auf die konkrete Gestalt der gottesdienstlichen Feier.
Ohne jetzt irgendwelche Schleichwerbung betreiben zu wollen: Wenn Sie sich etwa die umgestaltete Mutterhauskirche in Würzburg anschauen in ihrem Aufbau, in ihrer Gestaltung, dann ist das ein Bild, so hat es neulich noch einmal die australische Liturgiewissenschaftlerin Carmel Pilcher in einem sehr schönen, auch international durchaus breit rezipierten Artikel betont, wie vielleicht Kirche wirklich synodal Liturgie feiern kann – auf Augenhöhe, mit klarer Unterscheidung der verschiedenen Aufgaben und Dienste, aber zunächst einmal das Miteinander betonend. Das Kirchenrecht spricht nicht umsonst von der „vera aequalitas“, von der grundlegenden Gleichheit aller Getauften. Ich glaube, wir wären sehr viel weiter, was eine einer synodalen Kirche angemessene Feier der Liturgie betrifft, wenn es gelingen würde, stärker auch in unseren liturgischen Räumen und in unseren liturgischen Feiern deutlich werden zu lassen, dass sich hier wirklich zunächst einmal Gottes Volk als Gemeinschaft der Getauften versammelt und in dieser Versammlung zum gottesdienstlichen Geschehen, wo wir Leiden, Tod und Auferstehung Jesu Christi feiern, es natürlich auch verschiedene Aufgaben und Dienste braucht: liturgische Leitung, Predigt, musikalische Gestaltung, Vortrag von Lesungen und Gebet und so weiter.
Interview: Markus Hauck (POW)
Autor: Markus Hauck (POW); zusammengestellt von Gert Holle - 16.10.2025