»Von hier aus. Eine Bestandsaufnahme« - 15.02.–15.06.2024 in der Kunststiftung DZ BANK

Sophie Thun: All Things in My Apartment Smaller Than 8 x 10. group 6 2020. Foto: Norbert Miguletz
Sophie Thun: All Things in My Apartment Smaller Than 8 x 10. group 6 2020. Foto: Norbert Miguletz

19.04.2024

 

(Frankfurt/dzb/ch) - Fotoähnliche Bilder im World Wide Web und auf allen digitalen Endgeräten, die wir heute schon nutzen, lassen die »Fotografie« einmal mehr in aller Munde sein. Die Frage ist berechtigt, ob im Fall von digital erzeugten Bildern überhaupt noch von einem Zeichnen mit Licht die Rede sein kann oder ob hier nicht vielmehr von virtuellen, also die Wirklichkeit simulierenden Abbildungen gesprochen werden sollte.

Wir stehen erneut an einem Wendepunkt. Ähnlich wie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Chemiker, Physiker und Künstler verschiedene analoge fotografische Verfahren entwickelt haben, programmieren Informatikerinnen und Softwareentwickler seit Ende des 20. Jahrhunderts eine Vielzahl digitaler Anwendungsformen. Das hat Konsequenzen für unsere Bildwahrnehmung und ebnet erneut den Weg zu einer fundierten Medienkritik im Umgang mit jeglicher Form fotografischer Bilder. Haben die heutigen Bilder im Netz noch etwas mit der Idee der Fotografie zu tun? Und inwiefern bilden sie noch unsere Lebenswirklichkeit ab?

In der Ausstellung »Von hier aus. Eine Bestandsaufnahme« widmen wir uns verschiedenen Entwicklungsphasen, die die Fotografie von den Schattenbildern in Platons Höhlengleichnis bis zur digitalen Bildgenerierung durchlaufen hat. Einen Ausblick in die Zukunft der maschinellen Bilderzeugung werden wir im Jahr 2025 folgen lassen.

Mit ihrem beeindruckenden Konvolut von über 10.000 fotografischen Kunstwerken steht die Sammlung der DZ BANK für eine Idee der Fotografie, die weit über eine »Wirklichkeitsabbildung« hinausgeht. Versammelt wurden 20 Künstlerinnen und Künstler, die belegen, welche zumeist experimentelle Bandbreite die Fotografie als künstlerische Gattung hervorgebracht hat. Das Publikum erwartet eine faszinierende Zusammenstellung an fotografischen Bildern und Reliefs, Skulpturen und Filmen.

»Sich im Jahre 1993 für das Sammeln von fotografischen Kunstwerken zu entschließen, war mutig und innovativ«, so kommentiert Uwe Fröhlich, Co-Vorstandsvorsitzender der DZ BANK AG, die Sammlungsausrichtung. »Erst im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts setzten sich fotografische Techniken auf dem Kunstmarkt immer mehr durch und etablierten sich als eigenständiges Medium neben traditionellem künstlerischem Material wie Malerei und Bildhauerei. Mit künstlerischer Fotografie eine neue Unternehmenssammlung zu begründen und diesen Ansatz bis in die digitale Bilderzeugung weiterzuführen, kann als bahnbrechend gelten«, ergänzt Cornelius Riese, ebenfalls Co- Vorstandsvorsitzender der DZ BANK AG.

Seit der Konzeptkunst der 1960er Jahre und noch einmal verstärkt seit dem Einzug digitaler Verfahren in die Künste werden Gattungsgrenzen immer öfter überschritten. Künstlerinnen und Künstler beschränken sich meist nicht mehr nur auf eine Technik. Sie malen und zeichnen (Philipp Goldbach / Isabelle Le Minh / Clare Strand), sie bauen Installationen und befragen den Raum (Stefanie Seufert / Miriam Böhm / Christiane Feser / Gottfried Jäger / Ketuta Alexi-Meskhishvili). Sie ergänzen ihre Werke mit Sound (Adrian Sauer / Johannes Raimann / Valter Ventura) und erzeugen digitale stille sowie bewegte Bilder (Viktoria Binschtok / Katarína Dubovská / Beate Gütschow). So entstehen unzählige fotografische Abwandlungen über die Themen unserer Zeit (Peter Miller / Conrad Müller / Timm Rautert / Sophie Thun / Oriol Vilanova / Ulay).

 

Für Isabelle Le Minh (* 1965, Schötmar, BRD) etwa ist »nicht mehr Fotografie als Mittel zur Darstellung der Welt, sondern Kunst als Mittel zur Hinterfragung der Fotografie« das zentrale Anliegen ihres künstlerischen Schaffens. Die französische Künstlerin beschäftigt sich mit verschiedenen Theorien der Fotografie und bezieht diese in ihre Kunstwerke ein. Alle drei Bilder aus der Serie »Les Liseuses«, 2013 (dt. »Die Leserinnen«) verweisen auf verschiedene Fototheorien des 20. Jahrhunderts, die sich allesamt auf analoge Verfahren und Verwendungszusammenhänge aus dem 19. Jahrhundert beziehen – darunter Rosalind Krauss, Walter Benjamin und Vilém Flusser. Obwohl digitale Anwendungen des Fotografischen längst auf vielfältige Weise Einzug gehalten haben, vermisst Isabelle Le Minh ein Kompendium von internationaler Relevanz, das sich mit der aktuellen »digitalen Revolution« und ihren veränderten Wirkformen auseinandersetzt. Dafür verbindet die Künstlerin die Malerei, die Fotografie und digitale Methoden miteinander.

 

Codierung und Decodierung als digitales Prinzip der Bildgenerierung finden wir dagegen in Clare Strands (* 1973, Brighton, England, Vereinigtes Königreich) Arbeiten auf ganz analoge, malerische Weise vor Augen geführt. Ausgangspunkt ihrer Arbeiten sind fotografische Aufnahmen, die mit einer Rasterung überzogen sind, in der verschiedenen Grauabstufungen Zahlencodes zugewiesen wurden. Telefonisch lässt sich die Künstlerin sodann die Zahlenabfolgen übermitteln und überträgt sie in eine großformatige Version des gleichen Rasters auf Papier. Das malerische Ergebnis der »Bilddatenübertragung« gleicht einer vergrößerten, gleichsam »verpixelten« Wiedergabe des fotografischen Ursprungsbildes.

 

Die räumliche Befragung ist der fotografischen Kunst von Beginn an eingeschrieben. Aus einer Kammer (Camera obscura) geboren, bannt sie die dreidimensionale Umgebung in zweidimensionale Bilder. Was liegt also näher, als die Fotografie in ihren Ableitungen wieder in den Raum zurückzuführen? Gottfried Jäger (* 1937, Burg, Deutsches Reich) etwa zerschneidet und verschachtelt für seine »Fotopapierarbeiten« bereits belichtete Papiere; er legt sie übereinander, beobachtet und reagiert, fixiert und überlässt sie ihrer Eigendynamik, statt sie zu glätten, zu straffen und in der zweidimensionalen Fläche einzuebnen. Mit den Ergebnissen überwindet er die plane Fläche und gelangt zu einem in den Raum greifenden Objekt. Dagegen beschreibt Stefanie Seufert (* 1969, Göttingen, BRD) ihren Zugriff auf das fotografische Material als ein körperliches Agieren in Raum und Zeit; die Überführung des bearbeiteten Materials in die dritte Dimension ist für sie eine logische Konsequenz. Ihre Serie »Towers«, 2016 entwickelt sie als Direktbelichtungen in der Dunkelkammer. In einem mehrteiligen Entstehungsprozess, in dem sie Fotopapier bis zu vier Mal faltet und mit Farbfiltern belichtet, entsteht ein Fotogramm mit mehrfach abgestuften geometrischen Farbflächen. Entlang der Knicke und Kanten des manuellen Gestaltungsprozesses als Stele aufgerichtet, gewinnt das fotografische Material buchstäblich an Körperlichkeit.

 

Adrian Sauer (* 1976, Ostberlin, DDR) ist ein Meister in der vielfältigen Verarbeitung von (Bild-)Material. In seinem Hörstück »Fotografieren ist«, 2019 geht er sogar so weit, dass er sich ganz vom Bild befreit und durch seine Soundinstallation Motive wachruft, die jeder und jede von uns im Kopf gespeichert hat. Durch die laut gesprochenen Aussagen und ihre anschließende Negation macht der Künstler erlebbar, dass Fotografie immer mit unserem Denken verbunden ist und so nur eine Abstraktion der Umwelt sein kann. Johannes Raimann (* 1992, Wien, Österreich) bezieht den Ursprung der Fotografie in seine Bildanalyse ein. In seinem Objekt »die Photographie ist eine metallische Kunst, oder im Schweiße meines Angesichts«, 2018 macht er deutlich, dass die Fotografie ihre Existenz einerseits metallischen Verbindungen verdankt und andererseits aus einer zutiefst haptischen, ja handwerklichen Erfahrung und Erforschung geboren wurde. Dabei bleibt er nicht in der Vergangenheit stehen, sondern wendet sich in der Video-Klangarbeit »Scharfzeichner«, 2023 auch der Frage zu, wie der menschliche Sehapparat funktioniert und mit dem Einzug der digitalen bildgebenden Verfahren gesteuert wird.

 

Ende des 20. Jahrhunderts kamen entscheidende Erfindungen hinzu, die sich als digitale Verfahren zusammenfassen lassen. Auch in der digitalen Fotografie gibt es unterschiedliche Kameras; im Jahr 2022 kulminieren sie in der Hybrid- oder Systemkamera, die die Spiegelreflexkamera überflüssig macht. Wie in der Fotografie der ersten 170 Jahre gibt es auch hier eine Vielzahl an Übertragungsformen auf unterschiedlichste Bildträger. Darüber hinaus entstehen zahlreiche Verschränkungen von analogen und digitalen Methoden, durch die beide Verfahren miteinander verwoben werden. So treibt etwa Viktoria Binschtok (* 1972, Moskau, Russische Föderation) die Frage um, »was die digitale Veränderung für die Fotografie bedeutet«. Um 2013 beginnt sie ihre »Cluster«-Serie, in der sie versucht, die schier »unfassbare Menge an fotografischen Bilddaten« im Netz greifbar werden zu lassen. »Was berichten diese Bilder? Was sind das überhaupt für Bilder? Und wie lässt sich diese Gleichzeitigkeit von so vielen unüberschaubaren Bildwirklichkeiten, die uns permanent im Netz umgeben, physisch visualisieren und damit zeitlich einfrieren?« Für die mehrteilige Wandinstallation »Tokyo Night Cluster«, 2014 speist sie eine Aufnahme von Tokio bei Nacht über einen Bild-zu-Bild-Suchalgorithmus ins Netz ein, der ihr visuell Aufnahmen aus der digitalen Bilderflut zurückspielt. Einige dieser digitalen »Bildideen« arrangiert sie nach, sie »re-inszeniert« und fotografiert sie und überführt sie damit nicht nur in »artifizielle«, sondern vor allem in physische fotografische Bilder, die sie in einem wandfüllenden Setting ihrer Ursprungsaufnahme an die Seite stellt.

 

Beate Gütschows (* 1970, Mainz, BRD) Werke der Serie »HC« erinnern uns mit ihrer ungewöhnlichen Perspektive nicht ohne Grund an mittelalterliche Gartendarstellungen. Frankfurterinnen und Frankfurtern dürfte ein berühmtes Beispiel aus dem Städel Museum vertraut sein: das »Paradiesgärtlein«, entstanden um 1410/1420 aus der Hand eines oberrheinischen Meisters. »HC« bedeutet »Hortus conclusus« – der »geschlossene Garten« – und spielt in der christlichen Ikonografie eine besondere Rolle in der Mariensymbolik. Zugleich steht der »Hortus conclusus« exemplarisch für das »vorkamerabasierte Sehen«. Was dem Auge Orientierung bietet und was in diesen Darstellungen fehlt, ist nämlich die Zentralperspektive. Um die mit ihr verbundene räumliche Tiefe zu umgehen, bedient sich Beate Gütschow der Fotogrammetrie, einer im 19. Jahrhundert entwickelten Vermessungstechnik, die sie nun mit digitalen Möglichkeiten der Bildbearbeitung umsetzt. Auf diese Weise gestaltet sie in ihren fotografischen Arbeiten einen Perspektivraum, mit dem sie physikalische-optische Bedingungen von Fotokameras außer Kraft setzt und unsere zentralperspektivische Sehgewohnheit hinterfragt.

 

Aus einer anderen Generation, aber nicht weniger experimentierfreudig ist der 2020 verstorbene Künstler Ulay (* 1943, Solingen, Deutsches Reich). Als performativer Künstler bekannt geworden, wurde Ulay als Maschinenbauer und Fotograf ausgebildet und wendete sich bereits sehr früh der experimentellen Fotografie zu. Seit den 1970er Jahren arbeitete er für das Unternehmen Polaroid, was ihm unbegrenzten Zugang zu den Kameras und den kostspieligen Filmen ermöglichte. Es handelt sich dabei um eine fotografische Technik, bei der das Motiv vor dem Auge des Anwenders innerhalb weniger Minuten in Erscheinung tritt, ohne dass das Bild vom Negativ getrennt werden muss. Dabei sind die Themen, die der Künstler in seinen experimentellen Fotoarbeiten verhandelt, nie lapidar. Sie beziehen sich immer wieder auf gesellschaftliche und politische Zusammenhänge, die es zu lösen gilt. In seiner Serie »Water for the Dead«, 1990 etwa bringt er Wasser als wichtiges Lebenselixier ins Bewusstsein.

 

Wie Ulay bezieht sich auch Peter Miller (* 1978, Burlington, Vermont, USA) auf analoge fotografische Verfahren und lotet sie für seine Werkgruppen aus. Die in der Ausstellung präsentierte Arbeit »Kronleuchter IV«, 2011 ist ein Farbfotogramm, also als Direktbelichtung in der Dunkelkammer entstanden. Der titelgebende Kronleuchter ist zugleich Lichtquelle und Motiv, das sich ebenso magisch wie malerisch auf dem farbigen Fotopapier abzeichnet.

Auffallend ist: Indem sich Kunstschaffende nicht mehr mit der Wirklichkeitsabbildung beschäftigen, sondern die Fotografie als Technik ausloten, gewinnen sie die Freiheit, sich mit den Etappen der fotografischen Entwicklungsgeschichte zu bis hin zur computerisierten Verwendung der Fotografie. Die Sammlung der DZ BANK erzählt mit ihren Beständen von ebendieser Befreiung der Fotografie zur künstlerischen Gattung. »Der Kunststiftung DZ BANK obliegt die Aufgabe«, sagt Thomas Ullrich, der als Mitglied des Vorstands der DZ BANK AG dem Beirat der Kunststiftung vorsitzt, »diese umfangreiche Sammlung fotografischer Werke der Öffentlichkeit zuzuführen. Ihr ist es immer wieder ein Anliegen, in der Ausstellungstätigkeit und in ihrem umfangreichen Vermittlungsprogramm die enorme Vielfalt der Fotografie als künstlerisches Material deutlich zu machen.«

 

Künstlerinnen und Künstler der Ausstellung

Ketuta Alexi-Meskhishvili

Viktoria Binschtok

Miriam Böhm

Katarína Dubovská

Christiane Feser

Philipp Goldbach

Beate Gütschow

Gottfried Jäger

Isabelle Le Minh

Peter Miller

Conrad Müller

Johannes Raimann

Timm Rautert

Adrian Sauer

Stefanie Seufert

Clare Strand

Sophie Thun

Ulay

Valter Ventura

 

Oriol Vilanova