(Halle/fs) - Um 1700 verließen die Theologen und Pädagogen August Hermann Francke (1663–1727) und Christoph Semler (1669–1740) die erprobten Pfade der Schul- und Erziehungsmethoden ihrer Zeit. Mit Unterrichtsthemen aus Natur und Technik, zukunftsweisenden Praktiken der Vermittlung (Exkursion, Beobachtung, Experiment) und handwerklich-gestalterischem Tun begründeten sie im brandenburgisch-preußischen Halle innovative Schulen und schufen so die Grundlagen für das Realschulwesen in Deutschland. Die neuen Lehrmethoden in der frappierend modernen Bildungstopographie der Glauchaschen Anstalten, den heutigen Franckeschen Stiftungen, ermöglichten es den Schülern des Königlichen Pädagogiums und der Lateinschule, mit größtmöglicher Anschaulichkeit neuestes, nützliches und praxisorientiertes Wissens zu erlangen. »Dieser hallesche Bildungsimpuls war so wegweisend, dass Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716), in dessen Akademieentwürfen Modellsammlungen zur geradezu spielerischen Wissensvermittlung ein wesentlicher Baustein waren, sich persönlich vor Ort davon überzeugte.«, laden Kurator Tom Gärtig und seine Teamkollegen Dr. Claus Veltmann und Prof. Dr. Holger Zaunstöck ein, in der neuen Jahresausstellung der Franckeschen Stiftungen »Total real. Die Entdeckung der Anschaulichkeit« Wege der Wissensvermittlung kennenzulernen und für die Gegenwart zu diskutieren. Mit vielen Hands-on Stationen können Erwachsene und Familien beim Ausstellungsrundgang Mitmachen und Ausprobieren.
Im Mittelpunkt der Schau steht die wertvolle Sammlung der ersten Unterrichtsmodelle aus der Werkstatt Christoph Semlers, die bis heute in der Kunst und Naturalienkammer erhalten ist und zu den frühesten europaweit zählt. In der Modellkammer werden an ausgewählten halleschen Modellen und Leihgaben aus ganz Deutschland komplexe Zusammenhänge in Handwerk und Landwirtschaft (u.a. der sogenannte Mailändische Pflug, ein Meilenstein frühmoderner Landtechnik), Architektur und Gewerbe (u.a. Modelle eines Brauhauses, einer Tuchmacherwerkstatt, einer Salzsiedehütte), Religion (z.B. eine digitale Rekonstruktion des verschollenen Modells des Salomonischen Tempels) vorgestellt. Das National Museum of Science and Technology in Stockholm stellte für die Ausstellung zwei mechanische Funktionsmodelle aus dem Mechanischen Alphabet von Christopher Polhem (1661–1751) zur Verfügung. Er wird in Schweden bis heute als Vater der wissenschaftlichen Technik geehrt. Fasziniert von Franckes Bildungsimpuls schickte er seinen Sohn zur Ausbildung nach Halle. Die Werkstatt im Zentrum der Ausstellung ist jenen Handfertigkeiten und Techniken gewidmet, die den Schülern am Königlichen Pädagogium vermittelt wurden. Hierzu zählen das Drechseln, das Schleifen optischer Linsen und der Umgang mit Papier und Pappe, um Gehäuse für optische Geräte zu fertigen. Im Observatorium stehen das Beobachten und Erkennen der Welt und des Kosmos im Zentrum. Besonders faszinierend ist das kopernikanische Tellurium mit Uhrwerk von Willem Janson Blaeu (1571–1638) aus dem Jahr 1634, das den Lauf der Erde um die Sonne darstellt – eine Leihgabe aus dem Museum Bautzen.
Der Leibniz-Kosmos zu Beginn des Rundgangs lässt an der Diskussion der Zeit zwischen Theologen, Mathematikern und Didaktikern in ganz Deutschland um eine anschauliche Wissensvermittlung teilhaben. Im Francke-Kosmos werden die Umsetzungen in der modernen Bildungslandschaft der pietistischen Schulstadt mit Anatomie- und Experimentierstube, Naturalienkammer, Bibliothek, Laboratorium, Botanischem Garten und Altanen anschaulich. Ein ganz besonderes Highlight ist der Nachbau einer begehbaren Camera Obscura aus dem frühen 18. Jh. im oberen Mansarddach des Waisenhauses. Sie gilt als ein Meilenstein auf dem Weg zur Fotografie und erklärte den Schülern und Besuchenden seit 1720 die Funktionsweise des Auges. Der Ausstellungsrundgang endet mit einem Blick in die Zukunft: Wie kann es den Menschen in einer Zeit, die vom Benutzen und nicht mehr vom Verstehen der Dinge geprägt ist, gelingen, neue technische Funktionen zu durchdringen und zu verstehen? Diese Frage wird im Online-Angebot zur Jahresausstellung vertieft, das die Anschaulichkeit im digitalen Raum erprobt. Das Modellkabinett von Sébastien Leclerc und die Bildungstopographie der Franckesche Stiftungen können erkundet, historische Techniken etwa des Serviettenfaltens mit Schritt-für Schritt-Videos ausprobiert und historische Modelle in 3-D bis ins kleinste Detail erfahren werden.
JAHRESAUSSTELLUNG
Total real. Die Entdeckung der Anschaulichkeit.
23. März 2024 – 2. Februar 2025
Di-So 10–17 Uhr
Eintritt 8 Euro, erm.5. Euro, bis 18 Jahre frei
Alle Informationen zum Begleitprogramm und Angeboten für Schulklassen auf www.francke-halle.de
WISSENSCHAFTLICHER
BEGLEITKATALOG
Total real. Die Entdeckung der Anschaulichkeit.
Hrsg. im Auftrag der Franckeschen Stiftungen von Tom Gärtig, Claus Veltmann und Holger Zaunstöck unter Mitarbeit von Philipp Wille. Halle 2024 (Kataloge der Franckeschen Stiftungen, 41).
224 S., 140 Abb., € 28,00; ISBN 978-3-447-12158-3
Erstmals wird im Katalog zur Jahresausstellung die Biografie einer der ältesten Modellsammlungen für Lehre und Bildung in der Kunst- und Naturalienkammer der Franckeschen Stiftungen veröffentlicht. Zusammen mit dem Mechanischem Alphabet des schwedischen Wissenschaftlers und Erfinders Christopher Polhem (1661–1751), das alle mechanischen Prinzipien abbilden sollte, zählen die Realschulmodelle aus der Werkstatt Christoph Semlers (1669–1740) aus der Zeit zwischen 1706 und 1709 zu den frühesten, die explizit zu Lehrzwecken genutzt und zum Teil auch dafür gefertigt wurden. Beiträge der Kuratoren Tom Gärtig, Dr. Claus Veltmann und Prof. Dr. Holger Zaunstöck stellen die Bildungstopographie und die didaktische Umsetzung der Wissensvermittlung in den Franckeschen Stiftungen vor. Der Artikel von Dr. Magdalena Novak und Prof. Dr. Stephan Schwan vom Leibniz-Institut für Wissensmedien (Tübingen) führt in die aktuelle Forschung zur Lernpsychologie ein. Im Kapitel »Debatten heute« diskutieren Technik-Didaktiker Christian Weißmüller und der Germanist und Historiker Lukas Nils Regeler über Anschaulichkeit in der Gegenwart.